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begriffe:selektion

Selektion

Siehe auch: Auslese, natürliche


lat. selectio engl. selection
franz. sélection Gegenbegriffe
WortfeldAuslese, Aussonderung, Auswahl, Selektionsprinzipien, natürliche Selektion

Disziplinäre Begriffe

  • Allgemein: Eine Auswahl oder Auslese (z.B. bei Lebens- und Genussmitteln).
  • Biologie: In Anschluss an Charles Darwin ein zentraler Begriff der Evolutionsbiologie.
  • Psychologie: Hier der Begriff der 'selektiven Wahrnehmung'.
  • Soziologie: In der Luhmann'schen Systemtheorie verwendet.
  • Linguistik: Begriff der 'semantischen Selektion' (Vgl.: mentales Lexikon).
  • Informatik: Die Auswahl von Datenobjekten aus Datenmengen (z.B. in Datenbanken).

Material

A. Primärmaterial

1868Darwin, Charles: The Variation of Animals and Plants under Domestication, London 1868, Bd. II, 20. Kap., 193f: Darwins Prinzip der Selektion: "Zuchtwahl als […] ausschlaggebenden Kraft", welche "die Natur zur Erzeugung von Species an[wendet]". Zit n. Peter McLaughlin und Hans-Jörg Rheinberger: Darwin und das Experiment, in: Darwin und die Evolutionstheorie, hg. v. K. Bayertz u.a., Köln 1982, S. 34: „Das Prinzip der Selektion mag schicklich in drei Arten eingeteilt werden. Methodische Selektion ist diejenige, die einen Menschen leitet, der sich systematisch bemüht, eine Zucht gemäß einem vorher bestimmten Standard zu verhindern. Unbewusste Selektion ist diejenige, die sich ergibt, wenn Menschen natürlicherweise die wertvollsten Individuen erhalten und die weniger wertvollen vernichten […] Schließlich haben wir Natürliche Selektion, die impliziert, dass die Individuen, die den komplexen und im Laufe der Zeit sich verändernden Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind, am besten angepasst sind, im allgemeinen überleben und ihre Art fortpflanzen.“
1971Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: J. Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, 3 Bde., Frankfurt am Main, 1971, S. 512-548: Jakobson bestimmt hier den Doppelcharakter der Sprache als Gleichzeitigkeit von Kombination und Selektion von Zeichen.
2008Regazzoni, Lisa: Selektion und Katalog. Zur Konstruktion der Vergangenheit bei Homer, Dante und Primo Levi. München, 2008, S. 57ff.:
„Anders als der ältere Begriff Auslese entstammt Selektion der jüngsten deutschen Sprachgeschichte. Im Zuge der Anwendung der darwinistischen Theorie auf kausalgesetzlich interpretierte gesellschaftliche Auswahlmechanismen wurde der Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Übernahme des englischen (natural) selection (vom lateinischen selectio) zunächst von Darwin in die Soziologie eingeführt. Obwohl das Wort im 20. Jahrhundert eine allgemeinere Bedeutung annahm, benutzten die Sozialdarwinisten es bereits in einem sehr verdächtigen Sinne. Die Geschichte seiner deutschen Verwendung endet, wie im ersten Abschnitt veranschaulicht wurde, auf der Rampe der Konzentrations- und Vernichtungslager. Heute ist der Euphemismus, der das Schicksal der Deportierten verhüllt, ein im kollektiven Bewusstsein der Deutschen geächteter Begriff. Kein universales, abstraktes Gesetz hat das Wort verdrängt, sondern die Empfindlichkeit jedes einzelnen Deutschen, der aus Taktgefühl seinen Gebrauch vermeidet; lediglich als technischer Terminus, im Bereich der Genetik und der Linguistik, findet er nun Verwendung. Das Wort evoziert in primis immer noch das Bild von der Selektion auf der Rampe.
Wie verschiedene andere Begriffe wurde Selektion durch den Nationalsozialismus, der ihn zum Komplizen seiner Verbrechen gemacht hat, kompromittiert. Dieser Terminus gehört zu den Wörtern, die das Nachkriegsbewusstsein der Deutschen aus der Alltagssprache eliminiert und einer Art damnatio memoria übergeben hat. Infolge des „Entnazifizierungsprozesses“, der sie als geschichtliche Mahnmale hat verstummen lassen, werden jene Bezeichnungen nur noch wachgerufen, wenn sie bei der Rekonstruktion nationalsozialistischer Gräuel Zeugnis ablegen sollen.
Angesichts dieser Prämissen bestürzt das wiederholte auftreten des Wortes Selektion in den nach Auschwitz geschriebenen Seiten des Philosophen und „Halbjuden“ Hans Blumenberg.
In Arbeit am Mythos, 1979 veröffentlicht, nimmt Blumenberg eine schwindelerregende begriffliche Korrektur vor: er befreit das Wort Selektion vom „Missverständnis“ des Sozialdarwinismus und rehabilitiert die Selektion als Mechanismus, der im Laufe der Geschichtebedeutsamkeit hervorbringt. […] Weder entschärft Blumenberg das Wort Selektion noch verdrängt er es aus seinem Bewusstsein. [..] Er will den Terminus Selektion nicht außer Gebrauch kommen lassen, ihn somit auch nicht der Vergessenheit anheim geben, sondern dessen authentische Bedeutung rekonstruieren und eine Korrektur an seiner historischen Fehldeutung vornehmen. Er streicht den Begriff nicht aus seinem Wortschatz, sondern entlastet und befreit ihn von irrtümlichen Zuschreibungen.
Die Anwendung der Evolutionstheorie auf das menschliche Wesen hat dem Sozialdarwinismus das Prinzip geliefert, um Kontroll- und Selektionsstrategien innerhalb der Gesellschaft zu legitimieren. Daraus ist das „Missverständnis“ entstanden, das genau „in der Verengung des Selektionsbegriffs auf seine biologische Erklärungsleistung“ besteht. […] Nicht der Mensch als biologisches Wesen - korrigiert Blumenberg - ist der Selektion und dem Anpassungsprozess zu unterwerfen, sondern seine Artefakte und Instrumente, für die allein das survival of the fittest gilt..“

B. Sekundärmaterial

Begriffsgeschichtliche Arbeiten

  • Kiss, G.: (Art.) Selektion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter und K. Gründer. Bd. 9, Basel, 1995, Sp. 564-569.
  • Toepfer, Georg: (Art.) Selektion, in: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart und Weimar, 2009 ff.

Siehe auch:

  • Adler, H.: (Art.) Syntagmatisch/paradigmatisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 10, Basel/Stuttgart, 1998, Sp. 807-810.
  • Luhmann, Niklas: (Art.) Reduktion von Komplexität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 8, Basel/Stuttgart, 1992, Sp. 377-378.
  • Müller, J. B.: (Art.) Sozialdarwinismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 9, Basel/Stuttgart, 1995, Sp. 1127-1129.

Sonstige Literatur

  • Barros, D.B.: Natural selection as a mechanism. In: Philosophy of Science 75, 2008, S. 306-322.
  • Bayertz, K. (Hg.). Organismus und Selektion – Probleme der Evolutionsbiologie. Aufsätze und Reden der senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft 35. Kramer, Frankfurt/M, 1985.
  • Brush, S.G.: Choosing Selection. The Revival of Natural Selection in Anglo-American Evolutionary Biology 1930-1970, 2009.
  • Canguilhem, G.: Les concepts de »lutte pour l’existence« et de »selection naturelle« en 1858: Charles Darwin et Alfred Russel Wallace, 1959. In: Études d’histoire de philosophie des sciences. Vrin, Paris, 1968, S. 99-111.
  • Evans, L.T.: Darwin's use of the analogy between artificial and natural selection. In: Journ. Hist. Biol. 17, 1984, S. 113-140.
  • Gayon, J.: Darwin et l’après-Darwin. Une histoire de l’hypothèse de sélection naturelle, 1992. (engl.: Darwinismʼs Struggle for Survival: Heredity and the Hypothesis of Natural Selection, Cambridge 1998).
  • Grasshoff, M.: Die Frankfurter Evolutions-Theorie und die Begriffe „Anpassung“und „Selektion“. In: Natur und Museum 124, 1994, S. 196-198.
  • Gutmann, W.F. und D.S. Peters: Konstruktion und Selektion: Argumente gegen einen morphologisch verkürzten Selektionismus. In: Acta Biotheoretica 22, 1973, S. 151-180.
  • Herbert, S.: Darwin, Malthus, and selection. In: Journal of the History of Biology 4, 1971, S. 209-218.
  • Kauffman, S.A.: The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution. Oxford University Press, New York, 1993.
  • Laubichler, M.D.: Mit oder ohne Darwin? Die Bedeutung der darwinschen Selektionstheorie in der Konzeption der Theoretischen Biologie in Deutschland von 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg. In: Hoßfeld, U. und R. Brömer (Hg.). Darwinismus und/als Ideologie. Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin, 2001, S. 229-262.
  • Lerner, I.M.: The concept of natural selection: a centennial view. In: Proceedings of the American Philosophical Society 103, 1959, S. 173-182.
  • Lewens, T.: Natural selection then and now. In: Biol. Rev. Camb. Philos. Soc. 85, 2010, S. 829-835.
  • Lewens, T.: The Natures of Selection. In: The British Journal for the Philosophy of Science, 61/2, 2010, S. 313-335.
  • Manning, R.N.: Biological function, selection, and reduction. In: British Journal for the Philosophy of Science 48, 1997, S. 69-82.
  • Muller, H.J.: The Darwinian and modern conceptions of natural selection. Proceedings of the American Philosophical Society 93, 1949, S. 459-470.
  • Regelmann, J.-P.: Theorie und Praxis bei Charles Darwin. Das Problem der Begründung einer Selektionstheorie der Evolution. In: Medizinhistorisches Journal 19, 1984, S. 70-99.
  • Regelmann, J.-P.: Interne Aspekte der Selektion als darwinistische Perspektive: Bemerkungen über historische Hintergründe und aktuelle Legitimation eines senckenbergischen Konzepts. Aufsätze und Reden der senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft 35, 1985, S. 75-92.
  • Richardson, R.C.: Complexity, self-organization and selection. In: Biology and Philosophy 16, 2001, S. 655-683.
  • Runciman, W.G.: The Theory of Cultural and Social Selection. Cambridge, 2009.
  • Schurig, V.: Mechanischer und dialektischer Materialismus in der Biologie. Die philosophischen Konsequenzen in der Selektionstheorie. In: Hübner, K. und A. Menne, A. (Hg.). Natur und Geschichte. X. Deutscher Kongress für Philosophie. Meiner, Hamburg, 1973, S. 423-428.
  • Shanahan, Timothy: Phylogenetic inertia and Darwin’s higher law. In: Studies in History and Philosophy of Science Part C, 42/1 (2011), S. 60-68.
  • Skipper, R.A. Jr. und R.L. Millstein: Thinking about evolutionary mechanisms: natural selection. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 36, 2005, S. 327-347.
  • Stegmann, U.: What can natural selection explain? In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 41, 2010, S. 61-66.
  • Stephens, C.: Natural selection. In: Matthen, M. und C. Stephens (Hg.). Philosophy of Biology, Amsterdam, 2007, S. 111-127.
  • Stegmann, Ulrich E.: What can natural selection explain? In: Studies in History and Philosophy of Science Part C, 41/1 (2010), S. 61-66.
  • Vorzimmer, P.: Darwin, Malthus, and the theory of natural selection. In: Journal of the History of Ideas 30, 1969, S. 527-542.
  • Weber, B.H. und D.J. Depew.: Natural selection and self-organization. In: Biology and Philosophy 11, 1996, S. 33-65.
  • Wenzel, M.: Das Konzept der Binnenselektion – eine Ergänzung des Darwinschen Selektionsbegriffes? Aufsätze und Reden der senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft 35, 1985, S. 72-74.
  • Walsh, D.M.: The scope of selection: Sober and Neander on what natural selection explains. In: Australasian Journal of Philosophy 76, 1998, S. 250-264.
  • Walsh, D.M.: Chasing shadows: natural selection and adaptation. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 31, 2000, S. 135-153.

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