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Inhaltsverzeichnis
Genealogie
von Sigrid Weigel
Die Genealogie auf Foucaults Bühne des Wissens
In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche und dessen Konzept der Genealogie unterscheidet Michel Foucault zwei Begriffe von Genealogie, einerseits Herkunft und andererseits Entstehung. Foucaults Perspektive bei der Diskussion der Genealogie ist vor allem motiviert durch die Abgrenzung gegenüber jeder Form von Ursprungserzählung, Entwicklungsgeschichte oder linearer Genese, in der Ursprung und Anfang zusammenfallen. Die Herkunft wird von ihm als Abstammung (provenance) verstanden und mit Erbschaft und Leib in Verbindung gebracht: »Als Analyse der Herkunft steht die Genealogie also dort, wo sich Leib und Geschichte verschränken. Sie muß zeigen, wie der Leib von der Geschichte durchdrungen ist und wie die Geschichte am Leib nagt.« 1) Die Entstehung dagegen bezeichnet ein Auftauchen (surgissement), »das Prinzip und das einzigartige Gesetz eines Aufblitzens (apparition)«, d.h. das Ereignis und den Moment, in dem etwas zugleich Sichtbarkeit und Geltung gewinnt: »Die Entstehung ist also das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne.« 2)
Folgt man diesem Bild Foucaults, dann richtet sich die Untersuchung von Figuren des Wissens vor allem auf die Entstehung bestimmter Epistemologien, Theoreme oder Konzepte, auf die Ereignisse und Szenarien, in denen diese sich durchsetzen und sichtbar werden. Wenn man die Bühne des Wissens aber als einen Schauplatz begreift, der durch seine nicht-sichtbare Hinterbühne oder seine Rückseite - in Foucaults Bild der Raum hinter den Kulissen - d.h. durch dasjenige ermöglicht wird, das dem Hervortreten einher- und vorausgeht, so müßte der Raum hinter den Kulissen in die Betrachtung einbezogen werden. Verweist dieser Raum in Foucaults Szenario auf den Ort des Herkommens dessen, was entsteht, so schließt sich an das Bild der Bühne also die Frage an, was sich in den Kulissen abspielt und in welcher Weise die Bewegung des Sprungs auf die Bühne mit der Figur von Genese oder Herkunft in Beziehung steht. Damit wären Foucaults Kulissen als Metapher lesbar, die für die Dimension der Herkunft steht, die bei ihm von der Figur der Entstehung abgetrennt wurde. Und damit wäre man wieder bei der komplexen Konstellation der Genealogie angekommen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sich in ihr Momente von Entstehung und Herkunft verschränken: Emergenz und Genese, das Entspringen und dessen Möglichkeitsbedingung, die Sichtbarkeit und deren unkenntliche Vorgeschichte, der Ursprung und dessen Voraussetzung, Geburt und Abstammung.
Der Sprung auf die Bühne beschreibt dabei den Augenblick einer Zäsur oder eines Wechsels in der Genealogie, denn die Genealogie unterscheidet sich vom Kontinuum genau durch die Möglichkeit derartiger Unterbrechungen und Sprünge bzw. durch die Kombination bekannter, sichtbarer, bestehender mit untergründigen, verborgenen, vorausgegangenen Verbindungslinien. In grammatologischer Perspektive weist die Genealogie, indem sie die Genese und Generierung manifester Zeichen und Bedeutungen betrifft, auch auf die differance oder auf Derridas Postulat: »Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken. Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst.« 3) Im Verhältnis zur Verbergungsfigur der Spur ließe sich die Genealogie auch als Versuch beschreiben, den Raum der Spur sichtbar zu machen bzw. die Vorgeschichte des Seienden zu repräsentieren. Foucaults Unterscheidung von Herkunft und Entstehung und deren Zuordnung zu den Registern des Leibes einerseits und der historischen Bühne andererseits kommt einer wissenschaftshistorischen Aufteilung in die getrennten Verantwortungsbereiche von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft entgegen, wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert durchgesetzt hat: dort die Genealogie als Gegenstand von Vererbungslehren, von Humangenetik, Medizin und Biologie, hier die Genealogie als Gegenstand der Philosophie, der Kunstgeschichte, Narrativik, Sozialwissenschaft und Historiographie. Im Interesse einer kritischen Rekonstruktion der Trennungsgeschichte der zwei Kulturen und der damit einhergegangenen Aufspaltung des Wissens ist die Genealogie gerade deshalb von besonderem Belang, weil ihre Figuren und Schemata an der Schwelle zwischen Natur und Kultur operieren und diese selbst organisieren, oder, um in Foucaults Szenario zu bleiben, weil die Genealogie dort zu untersuchen ist, wo der Leib in einer historisch spezifischen Gestalt zur Darstellung kommt. Denn erst indem Abstammung und Vererbung, verstanden als naturgeschichtlicher Zeugungs- und Reproduktionsprozeß, in bestimmten Figuren von Herkunft und Abfolge symbolisiert werden, werden sie zu einer Form von Genealogie. Indem die Genealogie die Verschränkung von Leib und Geschichte reguliert und repräsentiert, kann sie als ein zentrales Medium zwischen Natur- und Kulturgeschichte verstanden werden. Die spezifische Art und Weise aber, wie dieses »zwischen« organisiert wird, unterliegt selbst einschneidenden historischen Zäsuren, die nicht einfach als Entwicklungs- oder Erfolgsgeschichte eines Konzepts beschrieben werden können. Insofern bedarf eine Untersuchung zur Genealogie selbst einer genealogischen Betrachtung. Die Genealogie bezeichnet also nicht nur eine bestimmte Betrachtungsweise für die Wissenschaftsgeschichte , sondern die verschiedenen genealogischen Schemata sind selbst Gegenstand einer Theorie und Geschichte des Wissens.
Begriffsgeschichte und Etymologie von Genealogie
Die Verwicklung von Verfahren und Gegenstand der Genealogie wird bereits an der Begriffsgeschichte der Genealogie deutlich. Der Eintrag des Wortes in der Encyclopédie (1751-1780) bezeichnet dessen Aufnahme in das Register systematischen Wissens, und zwar nach einer langen Karriere der Genealogie als mythisches Narrativ, als mentale Struktur des Mittelalters (vgl. Howard Bloch 1986) und nach ihrem Aufstieg zu einer systematisch betriebenen Geschlechterkunde zum Zwecke der Herstellung genealogischer Handbücher seit dem 17. Jahrhundert. Der entsprechende Artikel im siebten Band der Encyclopédie zum Stichwort »Genealogie«, das dem Register der Historie zugeordnet wird, setzt mit der folgenden Erklärung ein: »mot tiré du grec, […] il est composé de genos, race, lignée, & de logos, discours, traité.« 4) Damit führt die Encyclopédie den Begriff der Genealogie in einer doppelten Perspektive ein: (1) als Verbindung (composé) zweier sehr unterschiedlicher Terme, nämlich der Bezeichnung für eine Größe (race bzw. lignée) und der Genrebezeichnung für deren Repräsentationsmodus (discours bzw. traité), wobei die Alternative zwischen den je zwei Worten im Französischen (2) auf ein Übersetzungsproblem verweist.
Mit der Ableitung aus dem Griechischen (genos und logos) ist der Begriff nicht nur als Fremdwort markiert, sondern selbst als Teil einer sprachlichen Genealogie, bei der die Ableitung der Herkunft mit einem Wechsel der Sprachen verbunden ist. Genea-Logos, wörtlich übersetzt Gattungssprache oder das Denken der Gattung, das ist wie ein mehrfacher Knoten, der beide Teile vielfältig verknüpft. Genealogie wird etymologisch, d.h. die Frage der Herkunft im Register der Sprache betreffend, aus der Gattung abgeleitet, während der Begriff zur Möglichkeitsbedingung wird, den Fortgang der Gattung zu sagen bzw. darzustellen. Insbesondere die Wahl zwischen race und lignée, Geschlecht und Ahnenreihe, für genos signalisiert in der Encyclopédie, daß es hier nicht allein um die Differenz zwischen zwei Sprachen, sondern auch um die Distanz zum Ursprung der Genealogie geht. Die antike genea-logia, die man als Erzählung der Geschlechter, als Darstellung der Entstehung (genesis) oder als Logik der Gattung - entweder im Sinne von Menschenarten (Geschlechter) oder auch Menschenaltern (Generationen) - verstehen kann, ging nämlich gerade der Ausdifferenzierung von Einheit und Abfolge voraus. Denn genos als Gewordenes/Erzeugtes wird zur Gattung erst durch eine gewisse Beständigkeit, so jedenfalls in Aristoteles' Definition von genos, wenn er im Terminologie-Kapitel seiner Metaphysik den Begriff der Gattung als génesis synechès ton tb eidos echonton to auto definiert, als »zusammenhängende Erzeugung von solchen, welche dieselbe Form haben« 5). Insofern stellt sich die Genealogie der Genealogie als ein Feld dar, in dem (menschliche und materielle) Gattungen in der Geschichte über spezifische, je unterschiedliche Weisen im Zusammenspiel der Dimensionen Synchronie und Diachronie, Paradigma und Syntagma, Geschlecht und Erzählung oder auch Raum und Zeit konstituiert werden.
In der Fortsetzung der zitierten Eintragung in der Encyclopédie werden dann die zeitgenössisch etablierten Bedeutungen von Genealogie referiert: Normalerweise werde darunter die Abfolge (suite) und Zählung der Vorfahren verstanden oder eine kurz gefaßte Geschichte der Eltern und Verwandten einer Person oder eines vornehmen Hauses, sei es in direkter Reihe oder in den Seitenlinien. Als Zweites folgt der Hinweis auf die Genealogie als Beweismittel für noblesse, das bedeutsam sei beim Eintritt in adlige oder militärische Ordnungen, und für Erbschaftsprozesse. Außerdem sei die Genealogie von extremer Wichtigkeit für die Geschichte, um Personen gleichen Namens, um liaisons von Verwandtschaft und damit Erbschaftsfolgen und Rechte unterscheiden zu können. In begriffsgeschichtlicher Hinsicht präsentiert der Artikel die Bedeutung des Begriffs am Vorabend der Französischen Revolution als Summe des genealogischen Wissens im Anden Régime. In ihm wird die Koppelung der Genealogie an die Ahnentafeln des Adels fortgeschrieben, wie sie seit dem Mittelalter überliefert sind. Noch in Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts wird die Genealogie wie selbstverständlich für die Abstammungsgeschichten des Adels reserviert. So etwa in Pierers Universal-Lexikon von 1840, in dem die Genealogie definiert wird als »Wissenschaft vom Ursprung, der Folge u. Verwandtschaft vornehmer Geschlechter« 6).
Diese Koppelung von Genealogie und Ahnenforschung des Adels bedeutet nun nicht, daß die Frage nach Herkunft oder Abstammung mit der bürgerlichen Epoche verschwindet, sondern daß sie gemeinsam mit der Familialisierung der Kultur auf den Begriff der Familie verschoben wird. Die Familie, die am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zum Gegenstand eines neuen genealogischen Denkens wird, stellt sich dabei selbst als Medium einer Zäsur vielfacher begrifflicher Verschiebungen, Konversionen und Substitutionen dar. Während der Begriff der Geschlechter im Sinne der adligen Stammbäume verschwindet und statt dessen ein Diskurs über das (weibliche) Geschlecht einsetzt, der an das Dispositiv der Sexualität gebunden ist und im Sinne sexueller Differenz zu verstehen ist, tritt gleichzeitig der Begriff der Familie an die Stelle des alten Geschlechterbegriffs. Verschiebungen in der Begriffsgeschichte zwischen Geschlecht, Gattung/Art und Familie 7) signalisieren den Beginn einer Wissenschaftsgeschichte der Genealogie, die sich zu gleicher Zeit als Entstehung und Ausdifferenzierung von naturgeschichtlichen Zeugungs- und Gattungslehren einerseits und soziologischen und historiographischen Theoremen andererseits darstellt. Symptom dieser Aufspaltung ist der Begriff der Generation, zum einen als Zeugungs- oder Geschlechtstrieb, etwa in Caspar Friedrich Wolfis Theoria Generationis (1759) im Kontext des Wechsels von der Präformationslehre zum Konzept der Epigénesis, zum anderen die Generation als Schauplatz von Verhandlungen über das Erbe, sowohl im Verhältnis zwischen Familie und Nation in den Geschichtsentwürfen der Moderne als auch im innerfamilialen Feld der Beziehungen zwischen älterer und jüngerer Generation.
Die Genealogie als figura - zwischen Mythos, Philosophie und Sprache (z.B. Kant)
Doch zurück zum Genealogie-Artikel der Encyclopédie, nunmehr mit Blick auf den zweiten Teil des Kompositums, den logos, d.h. auf die Logik oder Sprache der Geschlechter. In nahezu allen Artikeln zur Genealogie findet sich nämlich ein Querverweis zur Darstellungsform, zum genealogischen Baum oder Stammbaum, zur genealogischen Tafel, Ahnen- oder Geschlechtertafel, zum Stammbuch oder Geschlechtsregister. »On forme d'une généalogie une espèce d'arbre. Voyez l'article suivant«, wie es in der Encyclopédie heißt. Andere Artikel verlieren sich in endlosen Erörterungen der Darstellungstypen und Überlieferungsformen genealogischen Wissens. Diese umfassen die ganze Spanne narrativer, tabellarischer, graphischer und symbolischer Darstellungen. Dabei bilden die Register und Tabellen eine Art Übergang zwischen mythischen und bildlichen Darstellungen, zumal in den antiken und biblischen genealogischen Überlieferungen Zählen und Erzählen häufig noch zusammenfallen. Insofern läßt sich die Geschichte des genealogischen Wissens nur im Kontext der Geschichte seiner Medien und Repräsentationsweisen beschreiben. Oder genauer: Die Genealogie ist die Geschichte der symbolischen, ikonographischen und rhetorischen Praktiken, der Aufschreibesysteme und Kulturtechniken, in denen das Wissen von Geschlechtern und Gattungen oder von der Abfolge des Lebens in der Zeit überliefert ist. Für die verbreitetsten Darstellungstypen der Genealogie - die Stammtafeln, die Geschlechtererzählungen und -register - werden immer wieder die antiken und biblischen Erzählungen als Vorbild oder Bezugspunkt herangezogen, so etwa im bereits zitierten Universal-Lexikon (1840): »Die älteste G. ist die Götterlehre u. Heldentafel, sowie wiederum die älteste (mythische) Geschichte der meisten Völker genealogisch ist; […] ja, das Menschengeschlecht selbst fängt nach der hebräischen Sage mit Einem Stammvater an.« 8) Womit die enzyklopädische Frage nach dem Ursprung der Genealogie, der »ältesten G.«, wiederum auf die Genealogie des Ursprungs, den Anfang des Menschengeschlechts, zurückführt.
Dieser Befund wird durch die These Klaus Heinrichs zur Funktion der Genealogie in Mythos und Philosophie gestützt, daß die Genealogie eine ursprungsmythische Geisteslage befördere. Diese reicht, wie er argumentiert, auch in die »rationalisierteste[n] Form der Genealogie«, ins System der deduktiven Logik, des deduktiven Schlusses hinein: »Die Macht der Ursprünge erhält sich durch die Kette der genera, der Geschlechter hindurch. […] Selbstverständlich ist die griechische Logik, wie jede Logik, ein entdämonisierendes Unternehmen. Aber der Kern dieser Logik ist die Genealogie, und das heißt: sie ruht auf einer ursprungsmythischen Geisteslage.« 9) Seiner Untersuchung kommt der Verdienst zu, auf die Mythos und Philosophie gemeinsamen Strukturen genealogischen Wissens aufmerksam gemacht zu haben. Im Anschluß daran stellt sich die Frage, ob und wie auch die späteren genealogischen Schemata ein ursprungsmythologisches Denken in der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften fortschreiben. Jedenfalls hat sich in der Folge von Heinrichs Untersuchungen die strikte Entgegensetzung zwischen Genealogie und Philosophie, wie sie im kanonisierten Wissen der Philosophiegeschichte festgeschrieben wurde, zunehmend relativiert. So war es nicht erst Nietzsche, der, wie oft zu lesen ist, mit seiner Genealogie der Moral (1887) die Genealogie wieder in die Philosophie eingeführt habe. Dem steht nicht zuletzt die Beliebtheit genealogischer Betrachtungsweisen in der Philosophie um 1800 entgegen, sei es bei Mendelssohn, Herder, Friedrich Schlegel oder Sendling.
Auch Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) kommt ohne genealogische Figuren nicht aus. Deren Status wechselt zwischen Metapher und Vergleich bzw. zwischen absoluter Metapher und Gleichnis. So spricht Kant im Abschnitt »Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien«, in welchem er seine Kategorien von denen Aristoteles' abgrenzt, von den »wahren Stammbegriffen des reinen Verstandes«, die er von den »abgeleiteten Begriffen« unterscheidet, um das System aus reinen und abgeleiteten Begriffen als »Stammbaum des reinen Verstandes völlig auszumalen« 10). In dieser Passage lassen sich Stammbaum und Ableitung als absolute Metaphern im Sinne Hans Blumenbergs verstehen. Mit ihnen wird der philosophische Begriff der Deduktion vorbereitet und eingeführt, dem das folgende Kapitel der Kritik gewidmet ist. Dieses nimmt zu Beginn die Metaphorik noch einmal auf, wenn beispielsweise vom »Geburtsbrief« der Begriffe die Rede ist, und zwar im Kontext einer Unterscheidung zwischen transzendentaler und empirischer Deduktion 11). In der folgenden philosophischen Erörterung über die transzendentale Deduktion tritt dann die genealogische Metaphorik in den Hintergrund, um schließlich in der Zusammenfassung, im § 27 »Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe«, wieder aufzutauchen, nun allerdings in veränderter Weise, transformiert nämlich in das zeitgenössische wissenschaftliche Paradigma genealogischer Debatten, in die Kontroverse zwischen Präformationslehre und Epigénesis. Diese strittigen Theorien werden nun in der philosophischen Argumentation Kants als Vergleich genutzt, d.h. als Metaphern im konventionellen Sinne einer übertragenen Redeweise. In dem betreffenden Abschnitt geht es um das Verhältnis von Erfahrung und Begriff, für das Kant »zwei Wege« diskutiert, »entweder die Erfahrung macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich«, von denen der erstere als »eine Art von generado aequivoca« verworfen wird: »Folglich bleibt nur das zweite übrig (gleichsam ein System der Epigenesis der reinen Vernunft): daß nämlich die Kategorien von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten.« In der folgenden Erörterung, in der auch ein möglicher Mittelweg zurückgewiesen wird, kommt dann der Gegenbegriff zur Epigenesis, kommt die Präformation als Vergleich zum Zuge. So wird ein möglicher Mittelweg von Kant ins folgende Bild gebracht,
»daß sie weder selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis, noch auch aus der Erfahrung geschöpft, sondern subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von unserm Urheber so eingerichtet worden, daß ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte (eine Art von Präformationssystem der reinen Vernunft)«. 12)
Eine Untersuchung der Rhetorik von Kants Erkenntnistheorie der philosophischen Deduktion zeigt also, daß die Verschiebung vom tradierten Bild des Stammbaums zur zeitgenössischen wissenschaftlichen Terminologie mit einer Transformation von der absoluten Metapher zur übertragenen, vergleichenden Rede einhergeht, so daß wissenschaftlicher Begriff und Vergleich gleichursprünglich sind, während diesem Gegensatz die absolute Metapher als produktives Moment vorausgeht. Dies belegt einmal mehr den kreativen Einsatz von Metaphern in der Sprache der Wissenschaft. Deren problematische Kehrseite wird erst dann wirksam, wenn die metaphorische Genese wissenschaftlicher Terminologie in Vergessenheit gerät. Die Philosophie steht also nicht im Gegensatz zur Genealogie, sondern sie ist selbst in das Zusammenspiel mythischer und systematischer Figuren genealogischen Wissens verwickelt.
So werden nicht zuletzt auch diskursive und rhetorische Strukturen als Baum dargestellt. Eine zur Figur der Ableitung in der Deduktion genau umgekehrte Figur betrifft z.B. die Verzweigung von Entscheidungen, sei es solchen der Argumentation oder solchen des Begehrens. In diesem Sinne begegnet der Baum mehrfach in den Texten Roland Barthes', so beispielsweise in seiner Lektüre der Exerzitien des Ignatius von Loyola (1971). Dessen Diskurs wird von Barthes als Netz von Knoten und Verzweigungen beschrieben und in das Diagramm eines nach oben verzweigten Baumes übertragen: »Die Entwicklung des Diskurses ähnelt also der Entfaltung eines Baums, eine den Linguisten wohlbekannte Figur. Hier ist der Baum der ersten Woche skizziert«. Man müsse sich das baumhafte Wachsen seines Diskurses wie ein Organigramm vorstellen, das bestimmt ist, »die Transformation der Anfrage in Sprache zu regeln, oder auch die Produktion einer Chiffre, die die Antwort der Gottheit anregen kann. Die Exerzitien ähneln einer Maschine im kybernetischen Sinn des Wortes« 13). Hier spricht noch der Strukturalist Barthes, für den das sprachliche System kybernetisch funktioniert, so daß jede Transformation in Sprache dazu führt, daß alles, Dinge, Handlungen, Wünsche etc., in die generative Struktur von Sprache und Rhetorik überführt werden. Wurde die Etymologie als sprachgeschichtliche Ableitung immer schon gern im Schema des Baums repräsentiert, so ist dieses Schema im Strukturalismus gleichsam in die Dimension der Synchronie projiziert, was sich als Möglichkeitsbedingung kybernetischer Denkmodelle darstellt. Eine sehr spezifische genealogische Betrachtungsweise der Sprachetymologie wird dagegen durch Verfahren einer »materiellen« Ableitung eröffnet, durch die Rekonstruktion visueller und akustischer Spuren von Ähnlichkeit zwischen einzelnen Worten und durch den Entwurf eines organischen Alphabets, wie es z.B. de Brosses in seinem Traite de laformation mécanique des langues (1765) vorgelegt hat 14).