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begriffe:vererbung

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Vererbung


germ./ idg. Erbe; Erbgut: *arbja; *arbjam/ *orbha- Synonyme Hinterlassenschaft/ Nachlaß/ Tradition/ Überlieferung
engl heredity/ inheritance Gegenbegriffe
franz. hérédité/ héritage Unterbegriffe
WortfeldErbe, Erblichkeit, Erbgut/ Erbschaft

Disziplinäre Begriffe

Hérédité (franz.):

  • Rechtswissenschaft: Nachlass, Erbe.
  • Biologie: Vererbung (biologisch); Genetik (ab d. 20. Jhd.). Vererbung (biologisch und sozial vor allem im 19. Jhd.).

Héritage (franz.):

  • Allgemein: Vererbung (materiell - ideell auch im Sinne von Tradition).
  • Religion: Metaphorische Verwendung in religiösen Kontexten: 'L‘heritage celeste' (für 'das Paradies').

Vererbung:

  • Rechtswesen: Die Hinterlassenschaft eines Erblassers, die von einem Erben übernommen wird.
  • Biologie: Bei Lebewesen die Übertragung von Erbgut auf ihre Nachkommenschaft.
  • Informatik: In verschiedenen Bereichen der Programmierung und der Wissensrepräsentation (strukturiertes Vererbungsnetz).

Material

A. Primärmaterial

1734Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Erbe, alles, das der Tode läst, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 8, S. 772.
1746Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Vererbung, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 47, S. 268-271.
1793Kant: "Die drei sogenannten obern Facultäten (auf hohen Schulen) würden, jede nach ihrer Art, sich diese Vererbung verständlich machen: nämlich entweder als Erbkrankheit, oder Erbschuld, oder Erbsünde. 1) Die medicinische Facultät würde sich das erbliche Böse etwa wie den Bandwurm vorstellen, von welchem wirklich einige Naturkündiger der Meinung sind, daß, da er sonst weder in einem Elemente außer uns, noch (von derselben Art) in irgend einem andern Thiere angetroffen wird, er schon in den ersten Eltern gewesen sein müsse. 2) Die Juristenfacultät würde es als die rechtliche Folge der Antretung einer uns von diesen hinterlassenen, aber mit einem schweren Verbrechen belasteten Erbschaft ansehen (denn geboren werden ist nichts anders, als den Gebrauch der Güter der Erde, so fern sie zu unserer Fortdauer unentbehrlich sind, erwerben). Wir müssen also Zahlung leisten (büßen) und werden am Ende doch (durch den Tod) aus diesem Besitze geworfen. Wie recht ist von Rechts wegen! 3) Die theologische Facultät würde dieses Böse als persönliche Theilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufrührers ansehen: entweder daß wir (obzwar jetzt dessen unbewußt) damals selbst mitgewirkt haben; oder nur jetzt, unter seiner (als Fürsten dieser Welt) Herrschaft geboren, uns die Güter derselben mehr, als den Oberbefehl des himmlischen Gebieters gefallen lassen und nicht Treue genug besitzen, uns davon loszureißen, dafür aber künftig auch sein Loos mit ihm theilen müssen." Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, hg. v. K. Vorländer, Leipzig 1919, S. 42, FN. Kant verwirft es, die Erbsünde "als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen. […] Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in die geraten wäre." Ebd., 42 f.

B. Sekundärmaterial

Begriffsgeschichtliche Arbeiten

  • Junker, Th., Richter, N. A.: (Art.) Vererbung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter, K. Gründer u. G. Gabriel. Bd. 11, Basel, 2001, Sp. 624 - 632.
Inhalt: Vererbung bezeichnet als biologischer Begriff die Weitergabe von Merkmalen (z.B. genetischen Informationen) von einer Generation an die nächste. Diese Verwendung bildet sich erst im Laufe des 19. Jhs. heraus. Die Begriffe des Wortfeldes Vererbung fanden und finden sich mehr im juristischen Bereich, wohingegen beim Begriff Vererbung die biologische Bedeutung dominiert.
Zwar denkt die griechische Antike (Hippokrates/ Aristoteles) über Vererbung nach, es werden aber keine eigenen Vererbungstheorien entwickelt. Erst im 18. Jhd. wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit Vererbung in Zusammenhang mit der Definition der biologischen Art erneut untersucht. Bei C. von Linné gewährleisten die Gesetze der Vererbung die Konstanz der Arten. Dieses Konzept hält sich bis ins 19. Jhd. Die Frage, von welchem Elternteil die Merkmale der Nachkommen stammen (Ovisten vs. Spermisten) bewirkt ein systematisches Untersuchen der Vererbung (z.B. durch P. M. de Maupertius/ J. G. Kölreuter). In Folge der Evolutionstheorie (Ch. Darwin) erfähr der Begriff der Vererbung eine wesentliche Umdeutung (die Veränderlichkeit des Erbgutes wird anerkannt), die im 19. Jhd. weiter diskutiert wird. Wesentlich sind Erkenntnisse W. Weissmanns, nach dem eine Vererbung erworbener Eigenschaften unmöglich ist. Bis heute wirksam sind auch Mendels Untersuchungen zur Vererbung, auf welchen die moderne Genetik aufbaut.
Im 20. Jhd. ermöglicht 'Die Aufklärung des Zusammenhangs von DNA-Struktur (1953), genetischem Code (1961) und der Umsetzung der genetischen Information in Proteine, ein Verständnis der chemischen Basis der Vererbung', in deren Folge die Vererbung wissenschaftlich als geklärt gilt. Umstritten sind aber weiterhin Fragen nach der Vererbbarkeit von Verhaltensmerkmalen (Intelligenz und Moral).
In der Philosophie des 18. und 19. Jhs. steht die Problematik der Vererbung in engem Zusammenhang mit der Evolutionstheorie. Ihr Erklärungspotential wird im 19. Jhs. (so bei Nietzsche, O. Liebemann u. F. Mauthner) ambivalent beurteilt bzw. ist gänzlich umstritten. Weiterhin problematisch bleibt die Bestimmung der Frage inwieweit Individuen durch Erbanlagen und/oder die Umwelt determiniert sind (Erbe-Umwelt-Problem; Sozialdarwinismus). Am Ende des 19. Jhs. bilden die wissenschaftliche Vererbungslehre und 'Degenerationszenarien' eine historische Konstellation aus, aus der die Eugenik ('Wissenschaft vom guten Erbe'; Begriffsschöpfung L. Galton 1883) hervorgeht. Sie differenziert sich, durch die Zeitgenössischen Erkenntnisse über Vererbung begünstigt, international in unterschiedlichen Strömungen aus. Eine dieser Strömungen entwickelt sich zum wissenschaftlichen Rassismus (Ploetz; E. Fischer, F. Lenz u. H. F. K. Günther).
Gegenwärtig spielen in der Diskussion die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, sowie der Gentechnik eine Rolle, wobei M. Foucaults Begriff der 'Bio-Macht' in Zusammenhang mit der Vererbung bedeutend wird. Jüngster Literaturhinweis 2000.
  • Oesterle, Günter: Zur Historisierung des Erbebegriffs. In: Thum, Bernd (Hg.): Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder. München, 1985. S. 411-451.
  • Toepfer, Georg: (Art.) Vererbung, in: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart und Weimar 2009 ff. (im Druck)

Siehe auch:

  • Schlüter, H.: (Art.) Orthogenese, Orthogenesis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 6, Basel/Stuttgart, 1984, Sp. 1387 - 1389.

Sonstige Literatur

  • Bowler, Peter J.: The Mendelian Revolution: The Emergence of Hereditarian Concepts in Modern Science and Society. London, 1989.
  • Churchill, Frederick B.: From Heredity Theory to Vererbung: The Transmission Problem, 1850-1915. Isis 78 (1987) S. 337-364.
  • Gayon, Jean: From Measurement to Organization: A Philosophical Scheme for the History of the Concept of Heredity. In: Beurton, Peter J., Raphael Falk und Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): The Concept of the Gene in Development and Evolution. Historical and Epistemological Perspectives. Cambridge, 2000. S. 69-90.
  • Gottschalk, Karin, Bernhard Jussen, Urban Kressin, Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel u. Stefan Willer: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur in historischer Perspektive. Erscheint 2008.
  • Egli, Werner u. Kurt Schärer (Hg.): Erbe, Erbschaft, Vererbung. Zürich, 2005.
  • Haedicke, Walter: Die Gedanken der Griechen über Familienherkunft und Vererbung. Halle, 1936.
  • Jacob, François: La logique du vivant. Une histoire de l'hérédité. Paris, 1970. (Dt. Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen Code. Frankfurt a.M., 1972.)
  • Lesky, E.: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken. Mainz 1950.
    • Rezension: E. Wickersheimer; J. Janssens, Archives Internationales d’Histoire des Sciences 4 (1951) 1033.
  • López-Beltrán, Carlos: Forging heredity: From metaphor to cause, a reification story. Studies in History and Philosophy of Science Part A 25/2 (1994) S. 211-235.
  • Mayr, Ernst: The Growth of Biological Thought: Diversity, Evolution and Inheritance. Cambridge, MA: Belknap Press, 1982.
  • Nye, Robert A.: Heredity or Milieu: The Foundations of Modern European Criminological. Isis 67 (1976) S. 334-355.
  • Rheinberger, Hans-Jörg: Heredity and its entities around 1900. Studies in History and Philosophy of Science Part A 39/3 (2008) S. 370-374.
Abstract: This paper aims to give an impression of how biologists, at the turn of the twentieth century, came to conceptualize and define the hidden entities presumed to govern the process of hereditary transmission. With that, the stage was set for the emergence of genetics as a biological discipline that came to dominate the life Sciences of the twentieth century. The annus mirabilis of 1900, with its triple re-appreciation of Gregor Mendel’s work by the botanists Hugo de Vries, Carl Correns, and Erich Tschermak, can be seen as the watershed after which theorizing about heredity and experimentation—selecting pure lines and Mendelian crossing—became tightly connected. As to concepts before this, this paper will analyze Carl von Nägeli’s ‘idioplasm’, Hugo de Vries’s ‘pangenes’, and August Weismann’s ‘germ plasm’. Carl Correns’s Anlagen and Wilhelm Johannsen’s ‘genes’ would replace them in the decade after 1900.
  • Rheinberger, Hans-Jörg u. Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt a.M. 2009.
  • Rheinberger, Hans-Jörg u. Staffan Müller-Wille (Hg.): Heredity produced: At the crossroads of biology, politics, and culture, 1500-1870. Cambridge MA., 2007.
  • Rheinberger, Hans-Jörg u. Staffan Müller-Wille: Heredity: The production of an epistemic space. Berlin, 2004.
  • Rheinberger, Hans-Jörg u. Staffan Müller-Wille: Zur Genesis der Vererbung als biologisches Konzept, 1750-1900. In: Vita aesthetica : Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus u. Jan Völker. Zürich, 2009. S. 215-225.
  • Stamhuis, Ida H., Onno G. Meijer, u. Erik J. A. Zevenhuizen: Hugo de Vries on Heredity, 1889-1903: Statistics, Mendelian Laws, Pangenes, Mutations. Isis 90 (1999) S. 238-267
  • Waller, John C.: Ideas of heredity, reproduction and eugenics in Britain, 1800–1875. Studies in History and Philosophy of Science Part C, 32/3 (2001) S. 457-489.
Abstract: In this paper I begin by arguing that there are significant intellectual and normative continuities between pre-Victorian hereditarianism and later Victorian eugenical ideologies. Notions of mental heredity and of the dangers of transmitting hereditary ‘taints’ were already serious concerns among medical practitioners and laymen in the early nineteenth century. I then show how the Victorian period witnessed an increasing tendency for these traditional concerns about hereditary transmission and the integrity of bloodlines to be projected onto the level of national health. Tracing the gradual emergence of eugenical thought, I also highlight some of the more fundamental social, political and intellectual factors that promoted this predilection for extrapolating from the individual lineage to the nation and race. In doing so I argue that fully fledged eugenical thought was always unlikely to emerge prior to the early Victorian period. However, I am also able to show that Francis Galton's 1865 eugenical proposals were far from innovative and that identifying him as the ‘father’ of the eugenics movement is highly misleading.
  • Waller, John C.: Parents and children: ideas of heredity in the 19th century. Endeavour 27/2 (2003) S. 51-56.
Abstract: The concept of heredity played a powerful role in structuring 19th-century debates over sickness, morality, class, race, education, social change and evolution. But there was very little agreement as to which qualities were heritable and how new hereditary variants were acquired. In consequence, notions of heredity existed in a wide variety of forms, expressing anything from extreme determinism and a belief in the incorrigibility of individuals, social and racial groups, to unleavened optimism, and a faith in ultimate human perfectibility. This article explores these rich hereditarian discourses to convey an impression of a century that was at least as preoccupied with the concept of biological inheritance as we are today.
  • Würffel, Stefan Bodo: (Art.) Erbetheorie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. H. v. Klaus Weimar. Bd. I, A-G. Berlin, 1997. S. 488-490.
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