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begriffe:reflex

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reflex [2013/05/15 10:35] – [4. Reflex-Geschichte] heynereflex [2013/05/15 10:48] – [5. Schluss] heyne
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 Das //Historische Wörterbuch der Philosophie((Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971-2007, Eintrag „Begriff“, Sp. 2.661.))// weiß von all dem nichts. Hier hat der Reflex seine Vorgeschichte in der Antike, bildet sich begrifflich im 17. heraus, findet im 19. Jahrhundert in der Physiologie seinen wichtigsten Bestimmungsort, wird in der introspektiven Psychologie mit Automatismus und Willkürhandlung in Verbindung gebracht und mündet schließlich in der Reflexologie und im Behaviorismus. Aus Sicht einer linear und innerhalb stabiler disziplinärer Grenzen sich entwickelnden Geschichtsschreibung mag diese Darstellung hinreichend sein. Das //Historische Wörterbuch der Philosophie((Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971-2007, Eintrag „Begriff“, Sp. 2.661.))// weiß von all dem nichts. Hier hat der Reflex seine Vorgeschichte in der Antike, bildet sich begrifflich im 17. heraus, findet im 19. Jahrhundert in der Physiologie seinen wichtigsten Bestimmungsort, wird in der introspektiven Psychologie mit Automatismus und Willkürhandlung in Verbindung gebracht und mündet schließlich in der Reflexologie und im Behaviorismus. Aus Sicht einer linear und innerhalb stabiler disziplinärer Grenzen sich entwickelnden Geschichtsschreibung mag diese Darstellung hinreichend sein.
  
-Eine Konzentration auf die Praktiken fördert hingegen ein völlig anderes Bild zutage. Angesichts der von Anfang an sich zeigenden technischen Kontaminationen des Reflex-Begriffs muss er als durchgehend kulturelles Phänomen aufgefasst werden, das sich nach seiner sukzessiven Herausbildung als Wort und als Praxis, im 19. Jahrhundert als interdisziplinäres Element in den Lebenswissenschaften etabliert hat und im 20. Jahrhundert dann zu einem zentralen Konzept für die //Anwendung// der Lebenswissenschaften geworden ist. Doch die long-durée Perspektive hat nicht nur eine andere Historiographie des Reflexes nahe gelegt, sondern noch viel mehr: sie hat das Moment der //Anwendung// des Reflexes außerhalb physiologischer Labore als epistemischen Bruch für seine Definition kenntlich gemacht – von einer unwillentlichen zu einer steuerbaren Reaktion; von einem automatischen zu einem technischen Phänomen.____+Eine Konzentration auf die Praktiken fördert hingegen ein völlig anderes Bild zutage. Angesichts der von Anfang an sich zeigenden technischen Kontaminationen des Reflex-Begriffs muss er als durchgehend kulturelles Phänomen aufgefasst werden, das sich nach seiner sukzessiven Herausbildung als Wort und als Praxis, im 19. Jahrhundert als interdisziplinäres Element in den Lebenswissenschaften etabliert hat und im 20. Jahrhundert dann zu einem zentralen Konzept für die //Anwendung// der Lebenswissenschaften geworden ist. Doch die longue-durée Perspektive hat nicht nur eine andere Historiographie des Reflexes nahe gelegt, sondern noch viel mehr: sie hat das Moment der //Anwendung// des Reflexes außerhalb physiologischer Labore als epistemischen Bruch für seine Definition kenntlich gemacht – von einer unwillentlichen zu einer steuerbaren Reaktion; von einem automatischen zu einem technischen Phänomen.____
  
 Hiernach könnte man vom Reflex als einem Mischwesen sprechen aus Wortfindung, Vorstellung, Ereignis, Experimentalpraxis, aus diskursiven Elementen und Modellen für Bewegungs- und Denkprozesse.((Bruno Latour: Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hrsg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, Bielefeld 2006, S. 259-307.)) Ein solches Phänomen in einer bestimmten Disziplin zu verorten würde bedeuten, es auf nur eine der vielen Funktionen zu reduzieren, die ihm historisch zukamen. Statt sich für eine Disziplin zu entscheiden, sollten vielmehr die Vereinfachungen und Grenzziehungen zwischen den Disziplinen, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, zwischen Kunst und Technik selbst historisiert werden. Hiernach könnte man vom Reflex als einem Mischwesen sprechen aus Wortfindung, Vorstellung, Ereignis, Experimentalpraxis, aus diskursiven Elementen und Modellen für Bewegungs- und Denkprozesse.((Bruno Latour: Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hrsg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, Bielefeld 2006, S. 259-307.)) Ein solches Phänomen in einer bestimmten Disziplin zu verorten würde bedeuten, es auf nur eine der vielen Funktionen zu reduzieren, die ihm historisch zukamen. Statt sich für eine Disziplin zu entscheiden, sollten vielmehr die Vereinfachungen und Grenzziehungen zwischen den Disziplinen, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, zwischen Kunst und Technik selbst historisiert werden.
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 Als Sergej Tschachotin in Russland weilte, schien jedenfalls keine solche Grenze zu existieren: Er war umgeben von Physiologen, die in ihren Laboren Künstler und Filmemacher mithilfe von Apparaten ausbildeten und dabei den menschlichen Organismus als Reflex-Apparat projizierten. Als Tschachotin mit seinem Reflexwissen in Deutschland aktiv wurde, beschäftigten sich parallel zahlreiche Künstler (nicht nur in Russland, auch am Deutschen Bauhaus) mit der Einrichtung einer auf die Reflexe abzielenden Ästhetik, künstlerische Medien wurden zu Medien wissenschaftlicher Praktiken, aus wissenschaftlichen Praktiken wurden Techniken, indem sie im gesellschaftlichen Raum wiederholt und gezielt Anwendung fanden – ganz gleich ob zu wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken. Als Sergej Tschachotin in Russland weilte, schien jedenfalls keine solche Grenze zu existieren: Er war umgeben von Physiologen, die in ihren Laboren Künstler und Filmemacher mithilfe von Apparaten ausbildeten und dabei den menschlichen Organismus als Reflex-Apparat projizierten. Als Tschachotin mit seinem Reflexwissen in Deutschland aktiv wurde, beschäftigten sich parallel zahlreiche Künstler (nicht nur in Russland, auch am Deutschen Bauhaus) mit der Einrichtung einer auf die Reflexe abzielenden Ästhetik, künstlerische Medien wurden zu Medien wissenschaftlicher Praktiken, aus wissenschaftlichen Praktiken wurden Techniken, indem sie im gesellschaftlichen Raum wiederholt und gezielt Anwendung fanden – ganz gleich ob zu wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken.
  
-Warum dies so ist, diese Frage muss noch offen bleiben für zukünftige Untersuchungen. Der Mediziner Francois Jacob hat hierzu die Überlegung formuliert, die Experimentalwissenschaften stimmten mit den Künsten vor allem darin überein, dass sie eine „Werkstatt des Möglichen“ darstellten.((Francois Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 164.)) Dies äußere sich beispielsweise in der „Ausrichtung ihrer Gedanken“ und in der „Art der verwendeten Bilder.“ Zugleich aber relativiert Jacob den Vergleich: „[…] solche Entsprechungen sind nicht so einfach zu analysieren.“((Francois Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 174.)) Sie erscheinen bevorzugt nach Revolutionen und führen zu einer „Verschiebung des Möglichen […].“((Francois Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 175.))+Warum dies so ist, diese Frage muss noch offen bleiben für zukünftige Untersuchungen. Der Mediziner François Jacob hat hierzu die Überlegung formuliert, die Experimentalwissenschaften stimmten mit den Künsten vor allem darin überein, dass sie eine „Werkstatt des Möglichen“ darstellten.((François Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 164.)) Dies äußere sich beispielsweise in der „Ausrichtung ihrer Gedanken“ und in der „Art der verwendeten Bilder.“ Zugleich aber relativiert Jacob den Vergleich: „[…] solche Entsprechungen sind nicht so einfach zu analysieren.“((François Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 174.)) Sie erscheinen bevorzugt nach Revolutionen und führen zu einer „Verschiebung des Möglichen […].“((Francois Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München 2000, S. 175.))
  
 Sergej Tschachotin hat versucht, die Möglichkeiten, die die Russische Revolution in Gang gesetzt hat, in Deutschland politisch zu nutzen, was kurz nach seinem erfolgreichen Coup in Hessen mit Hausdurchsuchungen, der Entlassung vom KWI und dem Pariser Exil endete. 1939 erschien sein letztes Buch mit dem Titel „Die Vergewaltigung der Massen“ auf französisch und englisch. Hier resignierte er im Vorwort: Es ist „zu spät, diejenigen, die über menschliche Schicksale entscheiden können, über die folgenden Gesetze und neuen Fakten aufzuklären, die hier dargelegt werden. Das Irreparable ist geschehen: Wir sind im Krieg.“ In der Sowjetunion wurden seine Schriften verboten, da er den Bolschewiken als Verräter galt, der ihre Propagandamethoden in der kapitalistischen Welt publik machte. Während Tschachotin seinen Widersachern in Deutschland als das „Auge Moskaus“ galt, hatte er in Russland den Spitznamen der „Rote Goebbels“. Widersprüchlicher konnten Fehleinschätzungen kaum sein. Sergej Tschachotin hat versucht, die Möglichkeiten, die die Russische Revolution in Gang gesetzt hat, in Deutschland politisch zu nutzen, was kurz nach seinem erfolgreichen Coup in Hessen mit Hausdurchsuchungen, der Entlassung vom KWI und dem Pariser Exil endete. 1939 erschien sein letztes Buch mit dem Titel „Die Vergewaltigung der Massen“ auf französisch und englisch. Hier resignierte er im Vorwort: Es ist „zu spät, diejenigen, die über menschliche Schicksale entscheiden können, über die folgenden Gesetze und neuen Fakten aufzuklären, die hier dargelegt werden. Das Irreparable ist geschehen: Wir sind im Krieg.“ In der Sowjetunion wurden seine Schriften verboten, da er den Bolschewiken als Verräter galt, der ihre Propagandamethoden in der kapitalistischen Welt publik machte. Während Tschachotin seinen Widersachern in Deutschland als das „Auge Moskaus“ galt, hatte er in Russland den Spitznamen der „Rote Goebbels“. Widersprüchlicher konnten Fehleinschätzungen kaum sein.
begriffe/reflex.txt · Zuletzt geändert: 2017/11/16 14:59 von claus