begriffe:energie
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+ | ==== Energie ==== | ||
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+ | ‚Energie‘ beschreibt in der Physik die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten. Doch nicht der Begriff der Energie selbst löst Mitte des 19. Jahrhunderts eine epistemische Revolution aus, sondern das mit ihm entdeckte Gesetz der ‚Erhaltung der Energie‘. In allgemeiner Formulierung besagt es, dass in einem geschlossenen System die Summe der zugeführten Energie gleich der Summe der abgegebenen Energie ist (1. Hauptsatz der Thermodynamik). Damit gilt zugleich das Perpetuum mobile als theoretisch widerlegt: keine Maschine kann mehr Energie erzeugen als ihr zugeführt worden ist. Eine noch stärkere kulturelle oder weltanschauliche Bedeutung gewinnt der 2. Hauptsatz: Nicht alle Energieformen können beliebig ineinander überführt werden. In einem geschlossenen System verwandelt sich letztlich alle Energie in nicht mehr arbeitsfähige Wärme (Entropie).\\ | ||
+ | Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ‚Energie‘ zu einem physikalischen Begriff. Zugleich werden mit ihm die einzelnen Gebiete der Physik miteinander theoretisch verbunden und eine Reihe von Wissenschaften physikalischen Methoden unterworfen bzw. überhaupt erst als Wissenschaften etabliert. Mit dem Energieerhaltungssatz als oberstem Gesetz der Naturwissenschaft wird die Physik zur Leitwissenschaft. Im Energiebegriff koinzidiert ingenieurstechnisches, | ||
+ | Wenn der Begriff Anlass zu zahlreichen weltanschaulichen Reflexionen bot, dann nicht zuletzt deshalb, weil die ‚Entdeckung‘ dieser Tatsache selbst auf das Engste den ökonomischen, | ||
+ | Die Situierung des Begriffs in einem weiten Netz von Bedingungen kann vielleicht erklären, warum der Begriff nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander entdeckt wurde (v. a. von Julius Robert Mayer, James Prescott Joule und Hermann von Helmholtz). Thomas Kuhn, der im Satz der Energieerhaltung das eindrucksvollste Beispiel einer gleichzeitigen Entdeckung sieht, benennt zwischen 1842 und 1847 zwölf Forscher, die wesentliche Momente des Begriffs gefunden haben.((Thomas S. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (1959), in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, | ||
+ | Die Geschichte des Energiebegriffs ist bereits Teil des Energiediskurses um 1900: im (nationalistisch gefärbten) Streit um die Priorität seiner Entdeckung rekonstruierten schon zeitgenössisch die Protagonisten dessen Geschichte, bedeutende Physiker (von Helmholtz über Wilhelm Ostwald bis Werner Heisenberg, Heinrich Hertz und Max Planck) vergewisserten sich der Bedeutung des Satzes über seine Genese. Seit Ernst Mach ist das Äquivalenzgesetz auch ein Paradigma, an dem Wissenschaftshistoriker ihre Methoden erproben.((Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (1872), Zweiter unveränderter Abdruck, Leipzig 1909. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (s. Anm. 1). Yehuda Elkana, The Discovery of the Conservation of Energy. Havard University Press 1974.)) Während (durchaus instruktive) lexikalische Begriffsgeschichten den Begriff eher ressortmäßig untersuchten, | ||
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+ | ===I. Erhaltung und Umwandlung vor dem Energiebegriff=== | ||
+ | Ideengeschichtlich war es vor allem die in verschiedenen Wissenschaften begründete Figur der Erhaltung, die dem Begriff der Energie vorausging: bereits Descartes hatte die Erhaltung aller in der Welt existierenden mechanischen Kräfte postuliert. Wenn auch Leibniz davon spricht, dann fehlt bei ihm der Aspekt der Umwandlung: Da Körper nicht miteinander kommunizieren, | ||
+ | Auch wenn sich die Protagonisten der Entdeckung des Äquivalenzgesetzes gegen die Naturphilosophie profilierten, | ||
+ | Es waren es vor allem zwei andere Diskurse, in denen – gleichermaßen entgegen der romantischen Naturphilosophie wie abseits der Physik – der Energieerhaltungsgesetz begründet wurde: Die Physiologie und die sich mit ‚Wärmemaschinen‘ (Dampfmaschinen, | ||
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+ | ===II. Gleichzeitige Entdeckung der Energieerhaltung=== | ||
+ | Sowohl Mayer wie auch Helmholtz fanden das Gesetz nicht in der Physik, sondern über den Umweg der Physiologie. Der schwäbische Oberamtswundrat (und physikalische Autodidakt) Mayer hat selbst seine Beobachtungen als Schiffsarzt als Ausgangspunkt seines Nachdenkens über den Erhaltungssatz benannt. Er stellte im wärmeren Klima den geringen Unterschied in der Farbe des arteriellen und venösen Blutes bei erkrankten Matrosen fest und erklärte ihn durch einen geringeren Sauerstoffverbrauch des Organismus im Stoffumsatz. Wie Mayer war auch Helmholtz lange Jahre Physiologe und Mediziner, genauer Chirurg, bevor er 1871 eine Physikprofessur in Berlin erhielt. Wenn Helmholtz (wie auch Mayer) über Fäulnis und Gärung, den Stoffverbrauch bei Muskelaktionen und physiologische Wärmeerscheinungen arbeiteten, so richteten sich ihre Überlegungen gegen die Theorie der Lebenskraft (vis vitalis). Helmholtz gehörte zu denjenigen Schülern Johannes von Müllers, die – mit Emil du Bois Reymond an der Spitze – dagegen einen physikalisch-chemischen Reduktionismus geltend machten. Auch wenn die ‚Lebenskraft‘kaum so explizit und emphatisch gebraucht wurde, wie du Bois-Reymond unterstellte, | ||
+ | Das entscheidende ‚Denkhindernis‘ auf dem Weg zum Energieerhaltungssatz war aber die Theorie eines unwägbaren materiellen Wärmestoffs, | ||
+ | In der physikalischen Gemeinde blieb Mayer die wissenschaftliche Anerkennung wegen seiner zum Teil philosophisch-deduktiv dargelegten Entdeckung zunächst versagt. Helmholtz gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der 1847 als erster das „Princip von der Erhaltung der Kraft“ mathematisch analysierte und seine Funktion in der Physik begründete: | ||
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+ | ===III. Mechanische Arbeit und kapitalistische Ökonomie=== | ||
+ | Für Helmholtz war der Begriff der ‚mechanischen Arbeit‘ ein zentraler Baustein in seiner Theorie der Energieerhaltung: | ||
+ | Während im Englischen die physikalische Arbeit (‚work‘) von der ökonomischen (‚labour‘) klar unterschieden ist, ermöglichen die gleichlautenden Termini im Deutschen und im Französischen (travail, travail d’une force) Übertragungen zwischen beiden Begriffen. Den Begriff der ‚travail méchanique‘ hatten zunächst französische Polytechniker (Gustave-Gaspard de Coriolis, Jean-Victor Poncelet) Ende der 1820er Jahre von der Berechnung der menschlichen und tierischen (lebendig-organischen) Tätigkeit auf Maschinen übertragen, | ||
+ | Wie stark die Aufstellung des Energieerhaltungssatzes mit dem emporstrebenden Kapitalismus zusammenhängt, | ||
+ | Schon Lavoisier war im Zuge seiner Untersuchungen zum Sauerstoffverbrauch auf einen abstrakten Begriff von Arbeit gestoßen: "Wir können z.B. bestimmen, welches Gewicht gehoben werden muß, um der Arbeit zu entsprechen, | ||
+ | Während Helmholtz in seiner Abhandlung Über die Erhaltung der Kraft von 1847 weitgehend innerphysikalisch argumentiert, | ||
+ | Auch Marx‘ Arbeits- und Wertbegriff weist Analogien zum allgemeinen Energiebegriff auf, insofern auch er eine Arbeit unterstellt, | ||
+ | Wenn Marx von ‚menschlicher Arbeit‘ spricht, dann meint auch er gewöhnlich maschinelle Arbeit und unterscheidet davon die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Marx übernimmt die physikalische Quantifizierung des Arbeitsbegriffs (und zitiert einen englischen Popularisator des Energiebegriffs, | ||
+ | Der Energiebegriff wirkte über die im gleichen Zuge entstehende Arbeitsphysiologie auf die Messung und Optimierung der menschlichen Arbeitskraft zurück. Bereits Du Bois-Reymond machte den Energieerhaltungssatz zur Grundlage einer exakt messenden Physiologie. In den 1890er Jahren wies der Physiologe und Hygieniker Max Rubner die Gültigkeit des Erhaltungssatzes für Lebewesen nach.((Max Rubner, Die Quelle der thierischen Wärme, in: Zeitschrift für Biologie 30 (1894), S. 73-142. Vgl. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und menschlicher Motor (Anm. 12).)) Er betrachtete nicht mehr nur Teilsysteme des Organismus, sondern die Umwandlungsprozesse des Gesamtorganismus‘. Rubner leitet einen Paradigmenwechsel in der Physiologie ein, die er vom Stoffwechsel auf eine energetische Basis umstellen wollte. Die Kraftumwandlung habe nicht die chemischen Qualitäten der Ernährungsstoffe zu untersuchen, | ||
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+ | ===IV. Energeia und Energie als Terminus im 19. Jahrhundert=== | ||
+ | Der neue Terminus Energie setzt sich, angeregt von englischen Physikern erst in den 1850er Jahren durch. „Für das unzerstörbare Etwas, als dessen Maß die mechanische Arbeit gilt, ist allmählich der Name Energie in Gebrauch gekommen.“((Mach, | ||
+ | ‚Energie‘, | ||
+ | Alltagssprachlich wird Energie zur Kennzeichnung der Stärke und Kraft, vor allem als menschliche Eigenschaft oder als Vermögen (Willen, Charakter, Gefühl etc.) verwendet. Bei Zedler heißt Energeia „Würckung oder Nachdruck, Kraft eines Dinges, sonderlich derer Lebens=Geister und des Geblüts.“((Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Halle und Leipzig 1731-1754, 8. Bd., S. 620.)) In sittlicher Bedeutung ist Energie Willens- oder Tatkraft, d. h. die Fähigkeit, seinen Willen auch mit der Tat kräftig zu beweisen. Diese positive Alltagsbedeutung findet sich als latente Konnotation auch in weltanschaulichen Debatten um den physikalischen Energiebegriff. Der wird allerdings in Lexika lange unter dem Einträgen ‚Kraft‘ oder ‚Erhaltung der Energie‘ verhandelt.((Vgl. z.B. Energie, in: Meyers Konversations-Lexikon, | ||
+ | Neben der kontinuierlichen Alltagsbedeutung und vor der Festschreibung als physikalischem Terminus waren Energeia und Energie zeitgenössisch in der deutschen Sprache schon in anderen disziplinären Kontexten terminologisiert worden. Im 18. Jahrhundert war ‚Energie‘ bei Herder und Sulzer ein ästhetischer Grundbegriff. Sulzer versteht unter Energie eine ‚vorzügliche Kraft, nicht nur der Rede, sondern in allen anderen Dingen, die zum Geschmacke gehören“.((Johann Georg Sulzer, Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste (1765), in: ders., Vermischte philosophische Schriften, Bd. 1, Leipzig 1773, S. 122-145.)) Sie komme Sachen und Wörtern zu, insofern sie durch lebhafte Schilderung Bewegung und Rührung in der Seele hervorrufen. Prominenter war Wilhelm v. Humboldts sprachtheoretische Verwendung von ‚Energeia‘ und ‚Ergon‘ (griech. εργον ' | ||
+ | 1826 hatte Johannes von Müller als „Grundgedanken“ der Physiologie formuliert, dass „die Energien des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen, nicht den äußern Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsinnsubstanz selbst immanent sind, daß die Sehsinnsubstanz nicht afficirt werden könne, ohne in ihren eingebornen Energien des Lichten, Dunkeln, Farbigen thätig zu seyn“.((Johannes von Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns des Menschen und der Thiere nebst einem Versuch über die Bewegungen der Augen und über den menschlichen Blick, Leipzig 1826, S. 44.)) Das ‚Gesetz der spezifischen Energie der Sinnesorgane’, | ||
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+ | ===V. Entropiebegriff=== | ||
+ | Ausgehend vom Energieerhaltungssatz untersuchte der Physiker Rudolf Clausius 1850 die Fähigkeit der Wärme, sich in Arbeit umzuwandeln.((Rudolf Clausius, Über die bewegende Kraft und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärmelehre selbst ableiten lassen (1850), in: Ostwalds Klassiker (Anm. 6).)) Er konnte dabei an die Abhandlung Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance (1824) von Sadi Carnot über Kreislaufprozesse in Wärmemaschinen anknüpfen. Carnot war davon ausgegangen, | ||
+ | Die Erkenntnis, dass Energieumwandlungen tendenziell unumkehrbar in eine Zeitrichtung verlaufen, war mit den Modellen der mechanischen Physik kaum vereinbar, die nur reversible Phänomene beobachtet. Durch Einführung der Statistik in die Thermodynamik versuchte in den 1870er Jahren der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann, das Reversibilitätsproblem innerhalb der mechanischen Physik zu rekonstruieren. Die Unordnung oder Zerstreuung (Dispersion) der Teilchen in einem System sei nur ihr wahrscheinlichstes Verhalten.\\ | ||
+ | Nur wenige naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien haben eine derartige Faszination, | ||
+ | „Hier strotzt die Backe voller Saft;\\ | ||
+ | Da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft.\\ | ||
+ | Die Kraft, infolge der Erregung,\\ | ||
+ | Verwandelt sich in Schwingbewegung.\\ | ||
+ | Zur Backe eilt, wird hier zur Hitze. […]\\ | ||
+ | Ohrfeige heißt man diese Handlung,\\ | ||
+ | Der Forscher nennt es Kraftverwandlung.“((Wilhelm Busch, Balduin Bählamm der verhinderte Dichter, in: ders., Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, | ||
+ | Da es sich bei der ‚Entropie‘ um eines der komplexesten Konzepte der Physik handelt und die disziplinären Übertragungen immer auch einen semantischen Überschuss erzeugten, war die diskursive Verbreitung des Begriffs gleichsam gesichert. Dennoch entfaltet der schon 1850 formulierte Satz der Entropie seine größte Wirkung auf Philosophie, | ||
+ | In Deutschland wurde die kulturelle Diskussion der Entropie durch Helmholtz Aufsatz Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und darauf bezüglichen Ermittlungen der Physik (1876) beflügelt. Die Physik soll nun gleichsam die Geschichtsphilosophie ersetzen: „Physikalisch-mechanische Gesetze sind wie Teleskope unseres geistigen Auges; sie dringen in die ferne Nacht der Vergangenheit und Zukunft.“((Helmholtz, | ||
+ | Helmholtz prognostiziert in apokalyptischer Metaphorik den „vollständigen Stillstand aller Naturprocesse“: | ||
+ | Ähnlich beschreibt Clausius 1863 die Folgen der Energiedissipation. Das Weltall nähere sich allmählich dem Zustande, wo die Kräfte keine neuen Bewegungen mehr hervorbringen können, und keine Temperaturdifferenzen mehr existierten. Der Grenzzustand des Entropiemaximums sei der Wärmetod der Welt. In Clausius Feststellung, | ||
+ | Außerhalb der Physik mag die Aversion gerade idealismuskritischer und an den Naturwissenschaften orientierter philosophischer Strömungen gegenüber dem Entropiesatz dadurch genährt worden zu sein, dass die implizierte Zeitdimension des Entropiebegriffs von Theologen dankbar aufgenommen wurde. Umgekehrt gehörte es zu den Standardargumenten religionskritischer Strömungen, | ||
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+ | ===VI. Energetik: Streitsache zwischen Natur- und Kultur- und Sozialwissenschaft=== | ||
+ | In Helmholtz‘ populären Vorträgen diente der Energieerhaltungssatz zur Begründung der sich gerade etablierenden methodischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Zu einem diskursiven Grundbegriff wurde Energie aber nicht zuletzt deswegen, weil die Grenzen seiner Geltung hochumstritten waren. Insbesondere wird am Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, inwieweit der Begriff zur Erklärung von Phänomenen jenseits der Natur, nämlich der Kultur und Gesellschaft geeignet ist.\\ | ||
+ | Ein anderer Grenzbereich war die Psychologie. In seinen Elementen der Psychophysik (1860) hatte Fechner den psychophysischen Parallelismus auch energetisch begründet. Er übertrug die potentielle Energie als ‚Spannkraft‘ auf das Gebiet der geistigen Tätigkeiten und unterstellte psycho-physiologische Interaktionen mit motorischen Prozessen.((Vgl. (Art.) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Anm. ), Bd. 9, S. 1295.)) Das Energieerhaltungsgesetz diente der Begründung des psychophysischen Parallelismus. Als daher der psychophysische Parallelismus in den 1890er Jahren von Philosophen wie Wilhelm Wundt und Carl Stumpf angegriffen wurde, spielte der Energieerhaltungssatz eine wesentliche Rolle.((Vgl. Mai Wegener, Der psychophysische Parallelismus, | ||
+ | Dagegen vertrat Freud zunächst das biophysikalische Paradigma seines Lehrers Ernst Brücke. Probleme der Psychologie werden um 1900 energetisch reformuliert. Die ‚Kräfte‘ wechseln gleichsam aus der Biologie in die Psychologie, | ||
+ | Um Übertragung von Energien zwischen den Menschen in Situationen kollektiver Interaktion geht es um 1900 schließlich auch im Rahmen der entstehenden Massenpsychologie (von Gabriel Tarde über Theodor Geiger und Gustave le Bon bis Elias Canetti). Die Theorie der geschichtsmächtigen Masse hängt um 1900 eng mit dem Energiebegriff zusammen.((Vgl. Michael Gamper: Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen, in: Gronau, Szenarien der Energie, S. 28. Joseph Vogl, Masse und Kraft, in: Brandstätter, | ||
+ | Eine radikale, zugleich hochumstrittene Ausweitung des Energiebegriffs wurde durch den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und Georg Ferdinand Helm vorgenommen.((Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (= Philosophisch-soziologische Bücherei, XVI), Leipzig 1909.)) Ihre als Energetik bezeichnete Lehre sieht die Energie und das Energieerhaltungsprinzip als Grundlage der gesamten Naturwissenschaft an. Auch Stoffe sind nur eine besondere Form der primären Energie. Helm, Mathematiker und Professor sowie Rektor an der Technischen Hochschule Dresden, vertrat die von ihm begründete ‚Energetik‘ besonders offensiv und öffentlichkeitswirksam. Ostwald und Helm forderten (unter anderem gegen Boltzmann) einen weltanschaulichen Monismus, der den wissenschaftlichen Materialismus mit seiner mechanischen Vorstellung (Teilchen und Bewegung) überwinde. Alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens sollten auf ihre energetischen Grundlagen hin untersucht werden. Anknüpfend an den belgischen Chemiker und Soziologen Ernest Solvay (Questins d’énergetique sociale, 1884-1910) verstanden Ostwald und Helm die Energetik auch als wichtigen Beitrag zur Beschreibung und Gestaltung der Gesellschaft. Dem zweiten Hauptsatz stellt Ostwald die „Leitlinie der Kulturentwicklung“ entgegen. Unter Einbeziehung der Pädagogik oder Kunst wird eine kulturelle Umwandlung niedriger, d.h. physischer Energien in höhere, d.h. geistige und psychische Formen postuliert. Im Bereich der Ökonomie postulierte Helm, dass Geld das ökonomische Äquivalent niedriger Entropie sei.((Georg Helm, Lehre von der Energie, Leipzig 1887.)) In diesen Debatten, die sich mitunter wie ein frühes, technikoptimistisches ökologisches Manifest, lesen, wurden Schlagwörter wie Energieeinsparung und Energieverschwendung geprägt.\\ | ||
+ | Wie weit außerhalb der Physik der Versuch von Ostwald, die Energetik auf Kultur und Gesellschaft auszudehnen, | ||
+ | Ostwald, der sich um 1900 in Russland einer breiten Rezeption erfreute, hatte mit seinem Energetikbegriff großen Einfluss sowohl auf die russische Avantgarde (Pavel Florenskij, der Symbolist Andrej Belyj) wie auf Visionen der Gotterbauer, | ||
+ | Ostwalds energetische Theorie, im Sinne von Mach und den Empiriokritizisten (Richard Avenarius) materialismuskritisch interpretiert, | ||
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+ | ===VII. Ausblick=== | ||
+ | Der Energiebegriff hat in gesellschaftlichen Debatten bis in die jüngste Gegenwart nichts von seiner Bedeutung als Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Debatten verloren. Allerdings ist das Bewusstsein, | ||
+ | Das Energieerhaltungsgesetz wird bis heute wohl von keinem Physiker generell in Frage gestellt. Dennoch sind sowohl seine fachwissenschaftliche Bedeutung wie seine weltanschauliche Ausstrahlung relativiert. Theorieimmanent, | ||
+ | Die allgemein kulturelle Faszinationsgeschichte des Energie- und Entropiesatzes ist im 20. Jahrhundert mit der speziellen Relativitätstheorie und mit der Entdeckung des Welle-Teilchen-Dualismus (1927) auf andere Themen der Physik übergegangen. Wenn die komplementären Eigenschaften Ort und Impuls nicht im gleichen Augenblick exakt gemessen werden können, dann trifft das sowohl auf das Eigenschaftspaar Ort und Impuls wie auf das Produkt von Energie und Zeit zu. Und wenn die Masse eines Körpers traditionell das Maß seiner passiven Widerstandskraft als Trägheit war, so wurde sie in der speziellen Relativitätstheorie zur Bezugsgröße für dessen Energiegehalt.\\ | ||
+ | Schließlich sind Funktionen, die ursprünglich mit dem Energiebegriff verbunden waren, später auf den Informationsbegriff übergegangen. Die statistische Darstellung der Entropie durch Kategorien der Ordnung/ | ||
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begriffe/energie.txt · Zuletzt geändert: 2020/04/03 11:35 von sinn