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begriffe:selektion

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Inhaltsverzeichnis

Selektion

Material

Primärliteratur

2008 Lisa Regazzoni, Selektion und Katalog, S. 57ff.: „Anders als der ältere Begriff Auslese entstammt Selektion der jüngsten deutschen Sprachgeschichte. Im Zuge der Anwendung der darwinistischen Theorie auf kausalgesetzlich interpretierte gesellschaftliche Auswahlmechanismen wurde der Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Übernahme des englischen (natural) selection (vom lateinischen selectio) zunächst von Darwin in die Soziologie eingeführt. Obwohl das Wort im 20. Jahrhundert eine allgemeinere Bedeutung annahm, benutzten die Sozialdarwinisten es bereits in einem sehr verdächtigen Sinne. Die Geschichte seiner deutschen Verwendung endet, wie im ersten Abschnitt veranschaulicht wurde, auf der Rampe der Konzentrations- und Vernichtungslager. Heute ist der Euphemismus, der das Schicksal der Deportierten verhüllt, ein im kollektiven Bewusstsein der Deutschen geächteter Begriff. Kein universales, abstraktes Gesetz hat das Wort verdrängt, sondern die Empfindlichkeit jedes einzelnen Deutschen, der aus Taktgefühl seinen Gebrauch vermeidet; lediglich als technischer Terminus, im Bereich der Genetik und der Linguistik, findet er nun Verwendung. Das Wort evoziert in primis immer noch das Bild von der Selektion auf der Rampe./ Wie verschiedene andere Begriffe wurde Selektion durch den Nationalsozialismus, der ihn zum Komplizen seiner Verbrechen gemacht hat, kompromittiert. Dieser Terminus gehört zu den Wörtern, die das Nachkriegsbewusstsein der Deutschen aus der Alltagssprache eliminiert und einer Art damnatio memoria übergeben hat. Infolge des „Entnazifizierungsprozesses“, der sie als geschichtliche Mahnmale hat verstummen lassen, werden jene Bezeichnungen nur noch wachgerufen, wenn sie bei der Rekonstruktion nationalsozialistischer Gräuel Zeugnis ablegen sollen./ Angesichts dieser Prämissen bestürzt das wiederholte auftreten des Wortes Selektion in den nach Auschwitz geschriebenen Seiten des Philosophen und „Halbjuden“ Hans Blumenberg./ In Arbeit am Mythos, 1979 veröffentlicht, nimmt Blumenberg eine schwindelerregende begriffliche Korrektur vor: er befreit das Wort Selektion vom „Missverständnis“ des Sozialdarwinismus und rehabilitiert die Selektion als Mechanismus, der im Laufe der Geschichtebedeutsamkeit hervorbringt. […] Weder entschärft Blumenberg das Wort Selektion noch verdrängt er es aus seinem Bewusstsein. [..] Er will den Terminus Selektion nicht außer Gebrauch kommen lassen, ihn somit auch nicht der Vergessenheit anheim geben, sondern dessen authentische Bedeutung rekonstruieren und eine Korrektur an seiner historischen Fehldeutung vornehmen. Er streicht den Begriff nicht aus seinem Wortschatz, sondern entlastet und befreit ihn von irrtümlichen Zuschreibungen./ Die Anwendung der Evolutionstheorie auf das menschliche Wesen hat dem Sozialdarwinismus das Prinzip geliefert, um Kontroll- und Selektionsstrategien innerhalb der Gesellschaft zu legitimieren. Daraus ist das „Missverständnis“ entstanden, das genau „in der Verengung des Selektionsbegriffs auf seine biologische Erklärungsleistung“ besteht. […] Nicht der Mensch als biologisches Wesen - korrigiert Blumenberg - ist der Selektion und dem Anpassungsprozess zu unterwerfen, sondern seine Artefakte und Instrumente, für die allein das survival of the fittest gilt..“
begriffe/selektion.1236293289.txt.gz · Zuletzt geändert: 2015/12/15 14:36 (Externe Bearbeitung)