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netz [2013/05/08 18:56] – [5. Neurophysiologische Netzmetaphorik im 19. Jh.] heynebegriffe:netz [2020/04/17 12:08] (aktuell) – Überschrift geändert sinn
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-====== Netz ======+====== Netz, Netzwerk ======
  
  
-Auch: Netzwerk, Vernetzung+Auch: Vernetzung
  
-Siehe auch: [[Gewebe]]+Siehe auch: [[begriffe:Gewebe]], [[begriffe:Geflecht]]
  
  
-Von Alexander Friedrich+Von [[autoren:friedrich_alexander|Alexander Friedrich]] 
  
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 ^ lat.    |      |^ engl.    | net, network, grid      ^ lat.    |      |^ engl.    | net, network, grid     
 ^ franz.  | réseau   |^Gegenbegriff  | | ^ franz.  | réseau   |^Gegenbegriff  | |
-^ Wortfeld|Netzwerk, Vernetzung, Akteur-Netzwerk-Theorie   ||||+^ Wortfeld|Netzwerk, Vernetzung, Akteur-Netzwerk-Theorie, [[begriffe:gewebe]] ||||
  
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 ===== 5. Neurophysiologische Netzmetaphorik im 19. Jh. ===== ===== 5. Neurophysiologische Netzmetaphorik im 19. Jh. =====
  
-Die Lexikalisierung der morphologischen Metapher für biologische Gewebe und der funktionalen für technische Infrastrukturen erfährt im Laufe des 19. Jh. eine folgenreiche Verknüfung auf Grundlage einer wirkmächtigen Analogiebildung zwischen der Telegraphie und dem Nervensystem. Die Art dieser Analogiebildung zwischen technologischen und physiologischen Kommunikationsmodellen bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin und Biologin Laura Otis als eine ›metaphorische Feedbackschleife‹.((Ebd.)) Denn die Übertragung der Metpaher findet in beide Richtungen statt.((Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der ModerneKöln 2004, S. 127-154.)) +Die Lexikalisierung der morphologischen Metapher für biologische Gewebe und der funktionalen für technische Infrastrukturen erfährt im Laufe des 19. Jh. eine folgenreiche Verknüfung auf Grundlage einer wirkmächtigen Analogiebildung zwischen der Telegraphie und dem Nervensystem. Die Art dieser Analogiebildung zwischen technologischen und physiologischen Kommunikationsmodellen bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin und Biologin Laura Otis als eine ›metaphorische Feedbackschleife‹.((Ebd.)) Denn die Übertragung der Metpaher findet in beide Richtungen statt.((Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Köln, 2004, S. 127-154.)) 
-So bezeichnete der Ingenieur und Erfinder des Telegraphencodes Samuel Morse 1838 die Telegraphenleitungen explizit als Nervenbahnen, die Informationen über alle möglichen Vorkommnisse im ganzen Land verbreiten sollen.((Samuel F. B. Morse: Samuel F. B. Morse: His Letters and Journals, hg. von Edward Lind Morse, Boston 1914, vol. 2, p. 85.)) Etwa 10 Jahre später kehrt der Begründer der experimentellen Elektrophysiologe Emil Du Bois-Reymond diesen Vergleich um und verknüpft ihn mit dem Bild des Spinnennetzes:  +So bezeichnete der Ingenieur und Erfinder des Telegraphencodes Samuel Morse 1838 die Telegraphenleitungen explizit als Nervenbahnen, die Informationen über alle möglichen Vorkommnisse im ganzen Land verbreiten sollen.((Samuel F. B. Morse: His Letters and Journals, hg. von Edward Lind Morse, Boston1914, vol. 2, S. 85.)) Etwa 10 Jahre später kehrt der Begründer der experimentellen Elektrophysiologe Emil Du Bois-Reymond diesen Vergleich um und verknüpft ihn mit dem Bild des Spinnennetzes:  
-Denn so »wie die Zentralstation der elektrischen Telegraphen im Postgebäude in der Königsstraße durch das riesenhafte Spinngewebe ihrer Kupferdrähte mit den äußersten Grenzen der Monarchie im Verkehr steht, so empfängt auch die Seele in ihrem Bureau, dem Gehirn, durch ihre Telegraphendrähte, die Nerven, unaufhörlich Depechen von allen Grenzen ihres Reiches, des Körpers, und teilt nach allen Richtungen Befehle an ihre Beamten, die Muskeln aus.«((Emil Du Bois-Reymond: Über thierische BewegungBerlin 1851, S. 29.)) +Denn so »wie die Zentralstation der elektrischen Telegraphen im Postgebäude in der Königsstraße durch das riesenhafte Spinngewebe ihrer Kupferdrähte mit den äußersten Grenzen der Monarchie im Verkehr steht, so empfängt auch die Seele in ihrem Bureau, dem Gehirn, durch ihre Telegraphendrähte, die Nerven, unaufhörlich Depechen von allen Grenzen ihres Reiches, des Körpers, und teilt nach allen Richtungen Befehle an ihre Beamten, die Muskeln aus.«((Emil Du Bois-Reymond: Über thierische BewegungBerlin1851, S. 29.)) 
-Indem das Bild des Spinnennetzes sich der Architektur des königlichen Fernmeldewesens verdankt, visualisiert die Metapher die zentralistisch organisierte Kommunikationstechnik. Die morphologische Übertragung erfolgt hier analog zum Eisenbahnsystem. Doch wird nun das hierarchische Kommunikationssystem der Monarchie und ihre technische Infrastruktur auf den Nervenapparat des Körpers übertragen. Einige Sätze später kehrt der Physiologe die Relation jedoch wieder um, indem er erklärt, dass das »Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie, […] längst in der thierischen Maschine vorgebildet«((Ebd., S. 30.)) gewesen sei. Durch diese Umkehrung der Übertragung entsteht nun jene ›metaphorische Feedbackschleife‹, von der Otis spricht: Soll das Nervensystem erst in Begriffen der elektrischen Telegraphie gedacht werden, fordert die Analogie nun dazu auf, die elektrische Telegraphie in Begriffen des Nervensystems zu denken. Du Bois-Reymond rechtfertigt diese Zirkularität mit dem Verweis auf eine innere Verwandtschaft beider Phänomene: »es ist Verwandtschaft zwischen beiden da, Uebereinstimmung nicht allein der Wirkungen, sondern vielleicht auch der Ursachen.«((Ebd.)) Weil es zu diesem Zeitpunkt aber weder für die Elektrizität noch für die Reizübertragung wissenschaftlich Erklärungen gibt, verweisen beide Referenzen der Analogie auf unbekannte Phänomene – was ihre Produktivität eher fördern als stören wird.((Maxwell präsentiert seine einheitliche Theorie des Elektromagnetismus 1864 der Royal Society in: James Clerk Maxwell: »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London Bd. 155 (1865) und das Phänomen der Reizübertragung wird die Neurophysiologie noch mehr als ein Jahrhundert beschäftigen, vgl. Edwin Clarke und Charles Donald O'Malley: The human brain and spinal cord, Berkeley, Los Angeles 1968.)) +Indem das Bild des Spinnennetzes sich der Architektur des königlichen Fernmeldewesens verdankt, visualisiert die Metapher die zentralistisch organisierte Kommunikationstechnik. Die morphologische Übertragung erfolgt hier analog zum Eisenbahnsystem. Doch wird nun das hierarchische Kommunikationssystem der Monarchie und ihre technische Infrastruktur auf den Nervenapparat des Körpers übertragen. Einige Sätze später kehrt der Physiologe die Relation jedoch wieder um, indem er erklärt, dass das »Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie, […] längst in der thierischen Maschine vorgebildet«((Ebd., S. 30.)) gewesen sei. Durch diese Umkehrung der Übertragung entsteht nun jene ›metaphorische Feedbackschleife‹, von der Otis spricht: Soll das Nervensystem erst in Begriffen der elektrischen Telegraphie gedacht werden, fordert die Analogie nun dazu auf, die elektrische Telegraphie in Begriffen des Nervensystems zu denken. Du Bois-Reymond rechtfertigt diese Zirkularität mit dem Verweis auf eine innere Verwandtschaft beider Phänomene: »es ist Verwandtschaft zwischen beiden da, Uebereinstimmung nicht allein der Wirkungen, sondern vielleicht auch der Ursachen.«((Ebd.)) Weil es zu diesem Zeitpunkt aber weder für die Elektrizität noch für die Reizübertragung wissenschaftlich Erklärungen gibt, verweisen beide Referenzen der Analogie auf unbekannte Phänomene – was ihre Produktivität eher fördern als stören wird.((Maxwell präsentiert seine einheitliche Theorie des Elektromagnetismus 1864 der Royal Society in: James Clerk Maxwell: »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London Bd. 155 (1865) und das Phänomen der Reizübertragung wird die Neurophysiologie noch mehr als ein Jahrhundert beschäftigen, vgl. Edwin Clarke und Charles Donald O'Malley: The human brain and spinal cord, Berkeley, Los Angeles1968.)) 
-In den folgenden anatomischen Debatten des 19. und noch des 20. Jahrhunderts führt die Metapher zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse. Seit der italienische Physiologe Camillo Golgi eine äußerst effektive Methode zur Einfärbung und Mikroskopierung von Nervenzellen entwickelt hat, haben sich zwei rivalisierende Gruppen von Neurohistologen entwickelt: Auf der einen Seite die ›Neuronisten‹ (zu gr. neûron, Nerv), auf der anderen die ›Retikulatisten‹ (zu l. reticulum, Netz). Golgi selbst gilt als der berühmteste Vertreter der letzteren, die aufgrund ihrer Beobachtungen zu der Auffassung gelangt sind, dass das ganze Nervensystem ein zusammenhängendes Netz aus Fasern, also jede Nervenzelle mit ihren Nachbarn physisch verbunden ist. Dem widersprechen ihre Gegner, die Neuronisten, vehement.((Vgl. Ebd.)) Deren bekanntester Vertreter ist der spanische Arzt Santiago Ramón y Cajal, mit dem sich Golgi 1906 den Nobelpreis für Medizin teilt. Ramón y Cajal benutzt dieselbe von Golgi entwickelte Mikroskopiertechnik, kann aber nirgends physische Verbindungen zwischen den Zellen ausmachen; so mochten für ihn die Fasern zwar komplexe Geflechte miteinander bilden: »but never a net«.((Santiago Ramón y Cajal: »Estructura del cerebrelo«. In: Gaceta Médica Catalana (188811, S. 455–457.  In: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Stattdessen sieht er in den Nervenfasern selbstständige Einheiten nach dem Vorbild einer politischen Föderation – jede Zelle sei »absolutely autonomous physiological canton«.((Ebd., S. 455–457, in: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Der Streit zwischen den Neuronisten und den Retikularisten wird erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops und dem Nachweis des synaptischen Spaltes beigelegt. Die mehrere Jahrzehnte anhaltende wissenschaftliche Kontroverse zwischen beiden Lagern hat sich aber nicht zuletzt auch aus sehr unterschiedlichen Auffassungen von Netzen gespeist. Während Golgis Netzmetaphorik die organische Integration der Teile zu einem Ganzen zum Ausdruck bringen will, weist Ramón y Cajal die Metaphorik zurück, weil sie für ihn mit der Autonomie und Entwicklungsfähigkeit des Individuums in Konflikt steht.((Vgl. Santiago Ramón y Cajal: »The Croonian Lecture: La Fine Structure des Centres Nerveux«. In: Proceedings of the Royal Society Bd. 55 (1894), S. 467–468.))+In den folgenden anatomischen Debatten des 19. und noch des 20. Jahrhunderts führt die Metapher zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse. Seit der italienische Physiologe Camillo Golgi eine äußerst effektive Methode zur Einfärbung und Mikroskopierung von Nervenzellen entwickelt hat, haben sich zwei rivalisierende Gruppen von Neurohistologen entwickelt: Auf der einen Seite die ›Neuronisten‹ (zu gr. neûron, Nerv), auf der anderen die ›Retikulatisten‹ (zu l. reticulum, Netz). Golgi selbst gilt als der berühmteste Vertreter der letzteren, die aufgrund ihrer Beobachtungen zu der Auffassung gelangt sind, dass das ganze Nervensystem ein zusammenhängendes Netz aus Fasern, also jede Nervenzelle mit ihren Nachbarn physisch verbunden ist. Dem widersprechen ihre Gegner, die Neuronisten, vehement.((Vgl. Ebd.)) Deren bekanntester Vertreter ist der spanische Arzt Santiago Ramón y Cajal, mit dem sich Golgi 1906 den Nobelpreis für Medizin teilt. Ramón y Cajal benutzt dieselbe von Golgi entwickelte Mikroskopiertechnik, kann aber nirgends physische Verbindungen zwischen den Zellen ausmachen; so mochten für ihn die Fasern zwar komplexe Geflechte miteinander bilden: »but never a net«.((Santiago Ramón y Cajal: »Estructura del cerebrelo«. In: Gaceta Médica Catalana188811, S. 455–457. In: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Stattdessen sieht er in den Nervenfasern selbstständige Einheiten nach dem Vorbild einer politischen Föderation – jede Zelle sei »absolutely autonomous physiological canton«.((Ebd., S. 455–457, in: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Der Streit zwischen den Neuronisten und den Retikularisten wird erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops und dem Nachweis des synaptischen Spaltes beigelegt. Die mehrere Jahrzehnte anhaltende wissenschaftliche Kontroverse zwischen beiden Lagern hat sich aber nicht zuletzt auch aus sehr unterschiedlichen Auffassungen von Netzen gespeist. Während Golgis Netzmetaphorik die organische Integration der Teile zu einem Ganzen zum Ausdruck bringen will, weist Ramón y Cajal die Metaphorik zurück, weil sie für ihn mit der Autonomie und Entwicklungsfähigkeit des Individuums in Konflikt steht.((Vgl. Santiago Ramón y Cajal: »The Croonian Lecture: La Fine Structure des Centres Nerveux«. In: Proceedings of the Royal Society Bd. 551894, S. 467–468.))
  
-===== 6. Modernernisierung des Netzwerkbegriffs 20. und 21. Jh. =====+===== 6. Modernisierung des Netzwerkbegriffs im 20. und 21. Jh. =====
  
 Während in den wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts die alte Bedeutung von Netzen, das Fangen und Schützen, von ihrer neuen Bedeutung, dem Übertragen und Verbinden, in den Hintergrund gedrängt wird, schreibt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, sozusagen rückwärts, in die ursprünglich morphologische Metapher ein und transformiert sie in einen gleichsam strukturfunktionalistischen Begriff. Das Resultat dieser Transformation ist eine Verbindung der morphologischen Vorstellung von Netzen (Struktur) mit der prozessualen Idee der Interaktion (Funktion). Vor dem 19. Jahrhundert haben Netzwerke nicht kommuniziert oder interagiert, mit dem 20. Jahrhundert wird es zu ihrer Hauptsache. Nun erhält der Begriff des N. eine weit umfassendere Bedeutung: die der Selbst-Organisation, etwa von biologischen, sozialen, technischen und ökologischen Systemen oder komplexen Gefügen. Das wird die Bedeutung des Begriffs N. maßgeblich erweitern und verändern, mit dem sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jh., maßgeblich seit den 1980er Jahren, zunehmend mit außerwissenschaftlichen Erwartungen verbindet. Während in den wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts die alte Bedeutung von Netzen, das Fangen und Schützen, von ihrer neuen Bedeutung, dem Übertragen und Verbinden, in den Hintergrund gedrängt wird, schreibt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, sozusagen rückwärts, in die ursprünglich morphologische Metapher ein und transformiert sie in einen gleichsam strukturfunktionalistischen Begriff. Das Resultat dieser Transformation ist eine Verbindung der morphologischen Vorstellung von Netzen (Struktur) mit der prozessualen Idee der Interaktion (Funktion). Vor dem 19. Jahrhundert haben Netzwerke nicht kommuniziert oder interagiert, mit dem 20. Jahrhundert wird es zu ihrer Hauptsache. Nun erhält der Begriff des N. eine weit umfassendere Bedeutung: die der Selbst-Organisation, etwa von biologischen, sozialen, technischen und ökologischen Systemen oder komplexen Gefügen. Das wird die Bedeutung des Begriffs N. maßgeblich erweitern und verändern, mit dem sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jh., maßgeblich seit den 1980er Jahren, zunehmend mit außerwissenschaftlichen Erwartungen verbindet.
-So erklärten sich die Herausgeber eines 1987 erschienenen Sammelbands über Soziale Netzwerke die Konjunktur des Netzwerk-Konzeptes vor allem mit lebhaften sozialen Utopien, die sich mit dem Konzept verbinden.((Heiner Keupp: »Soziale Netzwerke. Eine Metapher gesellschaftlichen Umbruchs?«, in: Heiner Keupp und Bernd Röhrle (Hg.): Soziale Netzwerke, Frankfurt/M., New York 1987, S. 12.)) Zu diesem Zeitpunkt existieren bereits unterschiedliche Begriffe von sozialen Netzwerken. In der Ethnologie beschreibt er das informelle Beziehungsgeflecht einer Person, in der Sozialanthropologie indessen die quantifizierbare Struktur größerer Gruppen.((Bernhard Streck: »Netzwerk«, in: Bernhard Streck, John Eidson und Katrin Berndt (Hg.): Wörterbuch der EthnologieWuppertal 2000, S. 176–179; Phillip Fuchs: »Zur Genese des Netzwerkbegriffs in der Soziologie«, in: Jan Broch, Markus Rassiller und Daniel Scholl (Hg.): Netzwerke der ModerneWürzburg 2007. Während sich der ethnologische Netzwerkbegriff als eine qualitative Beschreibungskategorie durchsetzte, entwickelte sich der sozialanthropologische Netzwerkbegriff spätestens seit den 1970er Jahren durch seine Verbindung mit der mathematischen Graphentheorie zu einem quantitativen Analysemodell. Granovetter: »The Strenth of Weak Ties«, Harrison C. White: Identity and controlPrinceton, NJ 1992.)) Doch beziehen sich die verschiedenen Begriffe immer auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich durch schwache institutionelle Strukturen auszeichnen.  +So erklärten sich die Herausgeber eines 1987 erschienenen Sammelbands über Soziale Netzwerke die Konjunktur des Netzwerk-Konzeptes vor allem mit lebhaften sozialen Utopien, die sich mit dem Konzept verbinden.((Heiner Keupp: »Soziale Netzwerke. Eine Metapher gesellschaftlichen Umbruchs?«, in: Heiner Keupp und Bernd Röhrle (Hg.): Soziale Netzwerke. Frankfurt am Main, New York1987, S. 12.)) Zu diesem Zeitpunkt existieren bereits unterschiedliche Begriffe von sozialen Netzwerken. In der Ethnologie beschreibt er das informelle Beziehungsgeflecht einer Person, in der Sozialanthropologie indessen die quantifizierbare Struktur größerer Gruppen.((Bernhard Streck: »Netzwerk«, in: Bernhard Streck, John Eidson und Katrin Berndt (Hg.): Wörterbuch der EthnologieWuppertal2000, S. 176–179; Phillip Fuchs: »Zur Genese des Netzwerkbegriffs in der Soziologie«, in: Jan Broch, Markus Rassiller und Daniel Scholl (Hg.): Netzwerke der ModerneWürzburg2007. Während sich der ethnologische Netzwerkbegriff als eine qualitative Beschreibungskategorie durchsetzte, entwickelte sich der sozialanthropologische Netzwerkbegriff spätestens seit den 1970er Jahren durch seine Verbindung mit der mathematischen Graphentheorie zu einem quantitativen Analysemodell. Granovetter: »The Strenth of Weak Ties«, Harrison C. White: Identity and controlPrinceton, NJ1992.)) Doch beziehen sich die verschiedenen Begriffe immer auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich durch schwache institutionelle Strukturen auszeichnen.  
-Währenddessen entdecken die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre das Netzwerk der community als Terrain der Selbstbefreiung und des Widerstands gegen die Zumutungen staatlicher Bürokratie und kapitalistischer Rationalität. Netzwerke als Figurationen des Intersubjektiven werden zur legitimen ja genuinen Form demokratischer Praxis erklärt. Als Modus der freien Kooperation autonomer und selbstbestimmter Individuums beruht die Politisierung sozialer Netzwerke auf der Suche nach einer Alternative zu autoritären Organisationsformen in kapitalistischen Lebenswelten.((Kaufmann: »Netzwerk«, S. 183.))+Währenddessen entdecken die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre das Netzwerk der community als Terrain der Selbstbefreiung und des Widerstands gegen die Zumutungen staatlicher Bürokratie und kapitalistischer Rationalität. Netzwerke als Figurationen des Intersubjektiven werden zur legitimen ja genuinen Form demokratischer Praxis erklärt. Als Modus der freien Kooperation autonomer und selbstbestimmter Individuen beruht die Politisierung sozialer Netzwerke auf der Suche nach einer Alternative zu autoritären Organisationsformen in kapitalistischen Lebenswelten.((Kaufmann: »Netzwerk«, S. 183.))
 Wenn sich nun ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung für die gleichen Angelegenheiten interessiert wie die sozialen Bewegungen, so Keupp, nämlich für »die Folgen von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen«((Keupp: »Soziale Netzwerke«, S. 20.)), dann nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem Konzept des Netzwerks implizit auch dessen »utopische Konnotationen« verhandelt. Die Attraktivität des Konzepts zehre demnach nicht nur von seiner methodischen Innovation, sondern – wenn auch unausgesprochen – von dem schillernden Spektrum der Alternativ- und Gegenkultur der 1980er Jahre. Seither verbinde sich mit dem Konzept der Netzwerke die »Last der großen Hoffnungen«.((Ebd., S. 19–20.)) Wenn sich nun ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung für die gleichen Angelegenheiten interessiert wie die sozialen Bewegungen, so Keupp, nämlich für »die Folgen von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen«((Keupp: »Soziale Netzwerke«, S. 20.)), dann nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem Konzept des Netzwerks implizit auch dessen »utopische Konnotationen« verhandelt. Die Attraktivität des Konzepts zehre demnach nicht nur von seiner methodischen Innovation, sondern – wenn auch unausgesprochen – von dem schillernden Spektrum der Alternativ- und Gegenkultur der 1980er Jahre. Seither verbinde sich mit dem Konzept der Netzwerke die »Last der großen Hoffnungen«.((Ebd., S. 19–20.))
-Die Last wird nun mit Anbruch des 21. Jh. nicht geringer, im Gegenteil. Vielmehr wird sie vermehrt von dem, was man in Anlehnung an Keupps Metapher die ›Last der großen Sorgen‹ nennen könnte: Versprach man sich von Netzwerken eine Überwindung der Probleme des Kapitalismus, werden sie nun selber zum Teil der Problems, das sie lösen sollten. Denn Netzwerke bleiben als Organisationsmodus nicht länger für soziale Bewegungen und alternative Lebensstile reserviert. Bald beginnt sich der Kapitalismus netzwerkförmig zu rekonfigurieren.((Joachim Hirsch und Roland Roth: Das neue Gesicht des KapitalismusHamburg 1986.)) +Die Last wird nun mit Anbruch des 21. Jh. nicht geringer, im Gegenteil. Vielmehr wird sie vermehrt von dem, was man in Anlehnung an Keupps Metapher die ›Last der großen Sorgen‹ nennen könnte: Versprach man sich von Netzwerken eine Überwindung der Probleme des Kapitalismus, werden sie nun selber zum Teil des Problems, das sie lösen sollten. Denn Netzwerke bleiben als Organisationsmodus nicht länger für soziale Bewegungen und alternative Lebensstile reserviert. Bald beginnt sich der Kapitalismus netzwerkförmig zu rekonfigurieren.((Joachim Hirsch und Roland Roth: Das neue Gesicht des KapitalismusHamburg1986.)) 
-Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Industrie- und Arbeitssoziologen die Transformation kompakter Betriebe in verteilte Produktionsnetzwerke.((Norbert Altmann et al.: »Ein ›Neuer Rationalisierungstyp‹ - neue Anforderungen an die Industriesoziologie«. In: Soziale Welt Bd. 37 (19862/3.)) Mitte der 1990er Jahre verkündet Manuel Castells den Aufstieg der ›Netzwerkgesellschaft‹.(( Arnold Windeler: UnternehmungsnetzwerkeWiesbaden 2001, Castells: The rise of the network society.)) Dezentralisierte, globale »Produktionsnetzwerke«((Daniel Bieber: »Systemische Rationalisierung und Produktionsnetzwerke«, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hg.): ArBYTEBerlin 1992.)) und das zunehmende Verständnis von sozialen Netzwerken als »soziales Kapital«((Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital«, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Die verborgenen Mechanismen der MachtHamburg 2005, S. 190.)) eröffnen neue Methoden der Wertschöpfung und Kontrolle, vor allem auf Grundlage der sich entfaltenden digitalen Netze. Das wachsende Unbehagen daran artikulierte sich schließlich in drastischer Programmatik zur Jahrhundertwende in Michael Hardts und Antonio Negris Manifest zum Empire – das globale Netzwerke zur primären Produktions- und Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts erhebt, und politischen Widerstand auch nur noch in der Gestalt von Netzwerken erkennt.((Michael Hardt und Antonio Negri: EmpireCambridge, Mass. 2000.)) Damit wird das Netzwerk zu einem Modell gesellschaftlicher Transformation. +Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Industrie- und Arbeitssoziologen die Transformation kompakter Betriebe in verteilte Produktionsnetzwerke.((Norbert Altmann et al.: »Ein ›Neuer Rationalisierungstyp‹ - neue Anforderungen an die Industriesoziologie«. In: Soziale Welt Bd. 3719862/3.)) Mitte der 1990er Jahre verkündet Manuel Castells den Aufstieg der ›Netzwerkgesellschaft‹.((Arnold Windeler: UnternehmungsnetzwerkeWiesbaden, 2001; Castells: The rise of the network society.)) Dezentralisierte, globale »Produktionsnetzwerke«((Daniel Bieber: »Systemische Rationalisierung und Produktionsnetzwerke«, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hg.): ArBYTEBerlin1992.)) und das zunehmende Verständnis von sozialen Netzwerken als »soziales Kapital«((Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital«, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Die verborgenen Mechanismen der MachtHamburg2005, S. 190.)) eröffnen neue Methoden der Wertschöpfung und Kontrolle, vor allem auf Grundlage der sich entfaltenden digitalen Netze. Das wachsende Unbehagen daran artikulierte sich schließlich in drastischer Programmatik zur Jahrhundertwende in Michael Hardts und Antonio Negris Manifest zum Empire – das globale Netzwerke zur primären Produktions- und Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts erhebt, und politischen Widerstand auch nur noch in der Gestalt von Netzwerken erkennt.((Michael Hardt und Antonio Negri: EmpireCambridge, Mass.2000.)) Damit wird das Netzwerk zu einem Modell gesellschaftlicher Transformation. 
 In dieser Konsequenz konvergiert nun die Politisierung des Netzwerkkonzeptes mit seiner Formalisierung, wie sie durch die mathematischen Modelle neuerer Netzwerktheorien vorangetrieben wird.((Vgl. Barabási: Linked, S. 178; Watts: Six Degrees, S. 303.)) Nirgendwo kommt dies vielleicht deutlicher zum Ausdruck als in dem Vorwort zu einer vom Militär beauftragten Studie des Commitee on Network Science for Future Army Applications des National Research Councils der USA, in dem auch die führenden Netzwerktheoretiker Duncan Watts und Albert-László Barabási vertreten sind. In dem 2005 veröffentlichten Bericht wird die Sache der ›network science‹ zu einer nationalen Angelegenheit ersten Ranges erklärt:  In dieser Konsequenz konvergiert nun die Politisierung des Netzwerkkonzeptes mit seiner Formalisierung, wie sie durch die mathematischen Modelle neuerer Netzwerktheorien vorangetrieben wird.((Vgl. Barabási: Linked, S. 178; Watts: Six Degrees, S. 303.)) Nirgendwo kommt dies vielleicht deutlicher zum Ausdruck als in dem Vorwort zu einer vom Militär beauftragten Studie des Commitee on Network Science for Future Army Applications des National Research Councils der USA, in dem auch die führenden Netzwerktheoretiker Duncan Watts und Albert-László Barabási vertreten sind. In dem 2005 veröffentlichten Bericht wird die Sache der ›network science‹ zu einer nationalen Angelegenheit ersten Ranges erklärt: 
 »First, networks lie at the core of the economic, political, and social fabric of the 21st century. […]. Moreover, social and communication networks lie at the core of both conventional military operations and the war on terrorism. Thus, investment in network science is both strategic and urgent national priority.«((Network science, S. vii.)) »First, networks lie at the core of the economic, political, and social fabric of the 21st century. […]. Moreover, social and communication networks lie at the core of both conventional military operations and the war on terrorism. Thus, investment in network science is both strategic and urgent national priority.«((Network science, S. vii.))
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 +  * Friedrich, Alexander: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, 2015.
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   * Freyermuth, Gundolf S.: (Art.) Netzwerk, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler; Bernd Stiegler, München 2005, S. 200-209 [enthält kurzen begriffsgeschichtlichen Abschnitt].   * Freyermuth, Gundolf S.: (Art.) Netzwerk, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler; Bernd Stiegler, München 2005, S. 200-209 [enthält kurzen begriffsgeschichtlichen Abschnitt].
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 +  * Gießmann, Sebastian: Netz: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke,  2014.
  
   * Spies, Marcus: Unsicheres Wissen. Wahrscheinlichkeit, Fuzzy-Logik, neuronale Netze und menschliches Denken. Heidelberg u.a., 1993.   * Spies, Marcus: Unsicheres Wissen. Wahrscheinlichkeit, Fuzzy-Logik, neuronale Netze und menschliches Denken. Heidelberg u.a., 1993.
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 +  * Toepfer, G.: Linien, Bäume, Kreise, Netze – und die Gegenstände der Biologie. In: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 12, 2006, S. 79-94.
  
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