Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


begriffe:netz

Unterschiede

Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen angezeigt.

Link zu dieser Vergleichsansicht

Beide Seiten der vorigen RevisionVorhergehende Überarbeitung
Nächste Überarbeitung
Vorhergehende Überarbeitung
netz [2013/05/08 16:49] – [2.3 Akteur-Netzwerke] heynebegriffe:netz [2020/04/17 12:08] (aktuell) – Überschrift geändert sinn
Zeile 1: Zeile 1:
-====== Netz ======+====== Netz, Netzwerk ======
  
  
-Auch: Netzwerk, Vernetzung+Auch: Vernetzung
  
-Siehe auch: [[Gewebe]]+Siehe auch: [[begriffe:Gewebe]], [[begriffe:Geflecht]]
  
  
-Von Alexander Friedrich+Von [[autoren:friedrich_alexander|Alexander Friedrich]] 
  
 ---- ----
Zeile 13: Zeile 13:
 ^ lat.    |      |^ engl.    | net, network, grid      ^ lat.    |      |^ engl.    | net, network, grid     
 ^ franz.  | réseau   |^Gegenbegriff  | | ^ franz.  | réseau   |^Gegenbegriff  | |
-^ Wortfeld|Netzwerk, Vernetzung, Akteur-Netzwerk-Theorie   ||||+^ Wortfeld|Netzwerk, Vernetzung, Akteur-Netzwerk-Theorie, [[begriffe:gewebe]] ||||
  
 ---- ----
Zeile 47: Zeile 47:
 ===== 3. Metaphorische Ursprünge und frühe Terminologisierungen ===== ===== 3. Metaphorische Ursprünge und frühe Terminologisierungen =====
  
-Im ursprünglichen Sinne waren Netze Jagdwaffen und Fallen oder, geradezu antithetisch, Vorrichtung des Schützens und Bergens. In vielen Mythologien und auch in der antiken Tragödie begegnen uns Netze als Symbole der Gewalt oder der List.((Almut Bick: SteinzeitStuttgart 2006, S. 89.)) Die frühen Metaphorisierungen des Jagd- und Fangwerkzeugs beruhen auf der spezifischen Beziehung, die Netze zu Räumen und Körpern entfalten. Es ist als Waffe ebenso brauchbar wie als Falle; entscheidend dafür ist das Verhältnis der Bewegung von Netz und Beute: Als bewegte war die Beute vorher irgendwohin unterwegs, das Netz als Falle hindert sie am Fortkommen. Seine Struktur übersetzt die Eigenbewegung des mobilen Körpers in hemmende Kräfte, versetzen ihn in gänzlichen Stillstand. Mittels einer einfachen Vorrichtung werden die Bewegungen des Opfers dazu gebracht, sich gegen ihren Urheber zu richten. Als Waffe ist das Netz selbst Bewegtes. Das zu Fangende kann vorher stillgestanden haben; das Wurfnetz verhindert die Mobilität des Opfers durch plötzliche Umschlingung. So warf der ›Retiarius‹ (zu l. rēte, ›Netz‹) sein Krepelnetz nach dem Gegner, um ihn kampfunfähig zu machen. Dieser Gladiatortypus war ganz auf Schnelligkeit hin getrimmt: Ohne schwere Rüstung, nur mit Dreizack, Dolch und Netz ausgestattet, war seine Stärke die Beweglichkeit.((Vgl. Eckart Köhne und Cornelia Ewigleben: Gladiatoren und CaesarenMainz 2000, S. 64–66.)) Mobilität macht die Falle zur Waffe, und die Tarnung die Waffe zur Falle. +Im ursprünglichen Sinne waren Netze Jagdwaffen und Fallen oder, geradezu antithetisch, Vorrichtung des Schützens und Bergens. In vielen Mythologien und auch in der antiken Tragödie begegnen uns Netze als Symbole der Gewalt oder der List.((Almut Bick: SteinzeitStuttgart2006, S. 89.)) Die frühen Metaphorisierungen des Jagd- und Fangwerkzeugs beruhen auf der spezifischen Beziehung, die Netze zu Räumen und Körpern entfalten. Es ist als Waffe ebenso brauchbar wie als Falle; entscheidend dafür ist das Verhältnis der Bewegung von Netz und Beute: Als bewegte war die Beute vorher irgendwohin unterwegs, das Netz als Falle hindert sie am Fortkommen. Seine Struktur übersetzt die Eigenbewegung des mobilen Körpers in hemmende Kräfte, versetzen ihn in gänzlichen Stillstand. Mittels einer einfachen Vorrichtung werden die Bewegungen des Opfers dazu gebracht, sich gegen ihren Urheber zu richten. Als Waffe ist das Netz selbst Bewegtes. Das zu Fangende kann vorher stillgestanden haben; das Wurfnetz verhindert die Mobilität des Opfers durch plötzliche Umschlingung. So warf der ›Retiarius‹ (zu l. rēte, ›Netz‹) sein Krepelnetz nach dem Gegner, um ihn kampfunfähig zu machen. Dieser Gladiatortypus war ganz auf Schnelligkeit hin getrimmt: Ohne schwere Rüstung, nur mit Dreizack, Dolch und Netz ausgestattet, war seine Stärke die Beweglichkeit.((Vgl. Eckart Köhne und Cornelia Ewigleben: Gladiatoren und CaesarenMainz2000, S. 64–66.)) Mobilität macht die Falle zur Waffe, und die Tarnung die Waffe zur Falle. 
  
 ==== 3.1 Antike Netzmetaphorik ==== ==== 3.1 Antike Netzmetaphorik ====
  
-Diese ursprüngliche Funktion von Netzen, das Fangen und Jagen, hat seit frühester Zeit zu seiner Metaphorisierung als Machtsymbol geführt. So geht nicht nur die berühmte Drohung der Perser, den Spartanern die Sonne mit Pfeilscharen zu verdunkeln, auf eine ursprünglich indische Metapher des ›Pfeilnetzes‹ zurück, das den Himmel bedeckt, während es sich auf den Feind herabsenkt.((Karl Meuli: »Ein altpersischer Kriegsbrauch«, in: Thomas Gelzer (Hg.): Gesammelte Schriften Bd. 2, Rudolf Tschudi zum siebzigsten GeburtstagBasel 1975, S. 703 Vgl. Mahābhārata, hsg. Krsnācārya-Vyāsācārya, Bombay 1908. Südliche Rezension 8, 15, 21, 24, vgl. 4, 48, 7 und nördl. Rez. 4, 43, 9.)) In den asiatischen Mythologien und im Zweistromland ist das Netz zudem seit uralter Zeit Waffe der Götter. Seit der Assyrerkönig Eannatum die sogenannte Geierstele hat errichten lassen – ein Siegesdenkmal, das den Gott Enlil ein mit Leichen gefülltes Netz in die Höhe haltend zeigt – ist dieses Bild immer wieder, bis in alttestamentliche Zeit hinein, verwendet worden. In den heiligen Schriften werden die Plagen, Sünden und das Unheil, das die Gottlosen und der Teufel selbst über die Welt bringen, als ein ›Netz‹ bezeichnet, vor dem die Gottesfürchtigen sich hüten sollen.((Vgl. Habakuk I,15-17, Hosea V,1; Josua XXIII,13; Psalm X,9; Psalm XXV,15; Psalm XXXI,5; Samuel XXVIII,9; Sprüche XXIX,5; Kohelet VII,26, IX,12.)) Es symbolisiert aber auch die Strafe Gottes, mit der die Abtrünnigen und Gesetzlosen züchtigt oder vernichtet.((Vgl. Ezechiel XII,13,20, XXXII,3; Hosea VII,12; Ijob XVIII,8; Jeremias I,13; Psalm IX,16.)) Schließlich versinnbildlicht es die Tücke der Sünde und der Hinterlist selbst, wenn sich die Gottlosen in ihr eigenes Netz verstricken, mit dem sie die Arglosen ins Verderben stürzen wollen. So wie das Netz die Bewegungen seiner Beute gegen sie selbst richtet, wird die Falle der Ungläubigen zu einer Waffe des Allmächtigen.((Vgl. Psalm XXXV,7-8, LVII,7, CXL,6, CXLI,10; Richter II,3; Sprüche V,22.))+Diese ursprüngliche Funktion von Netzen, das Fangen und Jagen, hat seit frühester Zeit zu seiner Metaphorisierung als Machtsymbol geführt. So geht nicht nur die berühmte Drohung der Perser, den Spartanern die Sonne mit Pfeilscharen zu verdunkeln, auf eine ursprünglich indische Metapher des ›Pfeilnetzes‹ zurück, das den Himmel bedeckt, während es sich auf den Feind herabsenkt.((Karl Meuli: »Ein altpersischer Kriegsbrauch«, in: Thomas Gelzer (Hg.): Gesammelte Schriften Bd. 2, Rudolf Tschudi zum siebzigsten GeburtstagBasel1975, S. 703Vgl. Mahābhārata, hsg. Krsnācārya-Vyāsācārya, Bombay 1908. Südliche Rezension 8, 15, 21, 24; Vgl. 4, 48, 7 und nördl. Rez. 4, 43, 9.)) In den asiatischen Mythologien und im Zweistromland ist das Netz zudem seit uralter Zeit Waffe der Götter. Seit der Assyrerkönig Eannatum die sogenannte Geierstele hat errichten lassen – ein Siegesdenkmal, das den Gott Enlil ein mit Leichen gefülltes Netz in die Höhe haltend zeigt – ist dieses Bild immer wieder, bis in alttestamentliche Zeit hinein, verwendet worden. In den heiligen Schriften werden die Plagen, Sünden und das Unheil, das die Gottlosen und der Teufel selbst über die Welt bringen, als ein ›Netz‹ bezeichnet, vor dem die Gottesfürchtigen sich hüten sollen.((Vgl. Habakuk I,15-17, Hosea V,1; Josua XXIII,13; Psalm X,9; Psalm XXV,15; Psalm XXXI,5; Samuel XXVIII,9; Sprüche XXIX,5; Kohelet VII,26, IX,12.)) Es symbolisiert aber auch die Strafe Gottes, mit der er die Abtrünnigen und Gesetzlosen züchtigt oder vernichtet.((Vgl. Ezechiel XII,13,20, XXXII,3; Hosea VII,12; Ijob XVIII,8; Jeremias I,13; Psalm IX,16.)) Schließlich versinnbildlicht es die Tücke der Sünde und der Hinterlist selbst, wenn sich die Gottlosen in ihr eigenes Netz verstricken, mit dem sie die Arglosen ins Verderben stürzen wollen. So wie das Netz die Bewegungen seiner Beute gegen sie selbst richtet, wird die Falle der Ungläubigen zu einer Waffe des Allmächtigen.((Vgl. Psalm XXXV,7-8, LVII,7, CXL,6, CXLI,10; Richter II,3; Sprüche V,22.))
 Als Symbol der Macht erlangt das Netz auch militärisch und politisch an Bedeutung. So überliefert Herodot eine Anekdote, die den persischen Gebrauch der Netzmetaphorik, zumindest ihre griechische Wahrnehmung bezeugt: Nachdem der Lyderkönig Kroisos den Halys überschritten und sein Reich in den Untergang geführt hatte (546 v. Ch.), sollen die Ionier und Äolier Gesandte zu Kyros II. geschickt haben, um diesem ihre sofortige Unterwerfung anzubieten. Der aber soll den ehemaligen Untertanen des Kroisos mit der Fabel des Flötenspielers geantwortet haben, der zu den zappelnden Fischen in seinem Netz spricht, dass sie aufhören sollen zu tanzen; denn als er am Strand nach ihnen gepfiffen habe, hätten sie auch nicht kommen und tanzen wollen. Mit dem Gleichnis warf Kyros den Griechenstädten vor, seiner Aufforderung nicht gefolgt zu sein, sich seinem Reich anzuschließen, als Kroisos noch König war.((Karl Meuli: »Ein altpersischer Kriegsbrauch«, in: Thomas Gelzer (Hg.): Gesammelte Schriften, Basel 1975, S. 699–729.)) Als Symbol der Macht erlangt das Netz auch militärisch und politisch an Bedeutung. So überliefert Herodot eine Anekdote, die den persischen Gebrauch der Netzmetaphorik, zumindest ihre griechische Wahrnehmung bezeugt: Nachdem der Lyderkönig Kroisos den Halys überschritten und sein Reich in den Untergang geführt hatte (546 v. Ch.), sollen die Ionier und Äolier Gesandte zu Kyros II. geschickt haben, um diesem ihre sofortige Unterwerfung anzubieten. Der aber soll den ehemaligen Untertanen des Kroisos mit der Fabel des Flötenspielers geantwortet haben, der zu den zappelnden Fischen in seinem Netz spricht, dass sie aufhören sollen zu tanzen; denn als er am Strand nach ihnen gepfiffen habe, hätten sie auch nicht kommen und tanzen wollen. Mit dem Gleichnis warf Kyros den Griechenstädten vor, seiner Aufforderung nicht gefolgt zu sein, sich seinem Reich anzuschließen, als Kroisos noch König war.((Karl Meuli: »Ein altpersischer Kriegsbrauch«, in: Thomas Gelzer (Hg.): Gesammelte Schriften, Basel 1975, S. 699–729.))
-Von Herodot und auch von Platon wird schließlich berichtet, dass der persische Feldherr Datis ein Netztreiben (**sageneÚein**) auf die griechischen Inselbewohner veranstaltet habe, um sie für ihre Beteiligung am Ionischen Aufstand (500-494 v. Ch.) zu bestrafen.((Platon: Nomoi III, 698d, Herodot VI, 31.)) Die persischen Soldaten sollen, von Strand ausgehend sich an den Händen gefasst, die Inseln bis zu ihrer Mitte hin durchkämmt und alle Bewohner wie Fische in einem Zugnetz gefangen haben. Zwar sind keine Beweise für ein solches Ereignis überliefert, wohl aber die Wirkung der Metapher. Das Gerücht, das möglicherweise Teil einer persischen Einschüchterungsstrategie war, erfüllte die Athener nach Platons Bericht mit Entsetzen.((Platon: Nomoi 3, 698d. Übersetzung von Meuli a.a.O, S. 700. Vgl. die Übersetzung von Klaus Schöpsdau in Platon: Gesetze. Buch I-VI, Darmstadt 2001, S. 209: »sich die Hände reichend, hätten die Soldaten des Datis das ganze eretrische Land wie mit einem Schleppnetz durchzogen.«)) +Von Herodot und auch von Platon wird schließlich berichtet, dass der persische Feldherr Datis ein Netztreiben (**sageneÚein**) auf die griechischen Inselbewohner veranstaltet habe, um sie für ihre Beteiligung am Ionischen Aufstand (500-494 v. Ch.) zu bestrafen.((Platon: Nomoi III, 698d, Herodot VI, 31.)) Die persischen Soldaten sollen, vom Strand ausgehend sich an den Händen gefasst, die Inseln bis zu ihrer Mitte hin durchkämmt und alle Bewohner wie Fische in einem Zugnetz gefangen haben. Zwar sind keine Beweise für ein solches Ereignis überliefert, wohl aber die Wirkung der Metapher. Das Gerücht, das möglicherweise Teil einer persischen Einschüchterungsstrategie war, erfüllte die Athener nach Platons Bericht mit Entsetzen.((Platon: Nomoi 3, 698d. Übersetzung von Meuli a.a.O, S. 700. Vgl. die Übersetzung von Klaus Schöpsdau inPlaton: Gesetze. Buch I-VI, Darmstadt2001, S. 209: »sich die Hände reichend, hätten die Soldaten des Datis das ganze eretrische Land wie mit einem Schleppnetz durchzogen.«)) 
-Die Tradition des Netzes als einer Metapher der Macht reicht damit von der Kupferzeit bis in die griechische Antike. Aischylos verknüpft schließlich die Bedeutung des Netzes als einer männlich konnotierten Jagdwaffe in seiner 458 v. Ch. uraufgeführten Orestie mit der weiblich konnotierten Metaphorik der Textilproduktion. In der griechischen Mythologie finden sich viele Frauengestalten, mit deren Handarbeit sich eine komplexe Symbolik des Lebens verbindet: Ananke und ihre Töchter, die Moiren, die als Schicksalsgöttinnen die Fäden des Lebens spinnen, abmessen und durchtrennen; die Weberin Arachné wird für ihren kunstvollen Wandteppich, der das Liebesleben der Götter darstellt, von der gekränkten Athene in eine Spinne verwandelt und indem sich Penelope webend ihre aufdringlichen Freier von Leib hält, schützt die Gemahlin des Odysseus ihr eigenes Leben und das ihres Mannes.((Vgl. Platon: Politeia 617c, Symposion 195c u. 197b, Ovid: Metamorphosen VI 1-145, Homer: Odyssee II 93-110, XIX 136-142.)) In der Orestie nun tötet Klytaimestra mit einem netzartigen Gewebe ihren ebenfalls von Troja heimkehrenden Gatten Agamemnon, wodurch sie einen generationsübergreifenden Familienfluch fortsetzt, anhand dessen Aischylos das ›Netz des Schicksals‹ darstellt. Indem der Dramatiker das tödliche »Netzgewebe«((AischylosDie Orestie, übersetzt von Emil Staiger, Stuttgart 2002.)) zugleich als Waffe der Frau und als Symbol des tragischen Zusammenhangs inszeniert, verwandelt er die Metapher der Macht in eine des Schicksal, aus dessen tödlicher Verstrickung sich zu befreien die Aufgabe der Kultur wird. +Die Tradition des Netzes als einer Metapher der Macht reicht damit von der Kupferzeit bis in die griechische Antike. Aischylos verknüpft schließlich die Bedeutung des Netzes als einer männlich konnotierten Jagdwaffe in seiner 458 v. Ch. uraufgeführten Orestie mit der weiblich konnotierten Metaphorik der Textilproduktion. In der griechischen Mythologie finden sich viele Frauengestalten, mit deren Handarbeit sich eine komplexe Symbolik des Lebens verbindet: Ananke und ihre Töchter, die Moiren, die als Schicksalsgöttinnen die Fäden des Lebens spinnen, abmessen und durchtrennen; die Weberin Arachné wird für ihren kunstvollen Wandteppich, der das Liebesleben der Götter darstellt, von der gekränkten Athene in eine Spinne verwandelt und indem sich Penelope webend ihre aufdringlichen Freier vom Leib hält, schützt die Gemahlin des Odysseus ihr eigenes Leben und das ihres Mannes.((Vgl. Platon: Politeia 617c, Symposion 195c u. 197b, Ovid: Metamorphosen VI 1-145, Homer: Odyssee II 93-110, XIX 136-142.)) In der Orestie nun tötet Klytaimestra mit einem netzartigen Gewebe ihren ebenfalls von Troja heimkehrenden Gatten Agamemnon, wodurch sie einen generationsübergreifenden Familienfluch fortsetzt, anhand dessen Aischylos das ›Netz des Schicksals‹ darstellt. Indem der Dramatiker das tödliche »Netzgewebe«((AischylosDie Orestie, übersetzt von Emil Staiger, Stuttgart2002.)) zugleich als Waffe der Frau und als Symbol des tragischen Zusammenhangs inszeniert, verwandelt er die Metapher der Macht in eine des Schicksals, aus dessen tödlicher Verstrickung sich zu befreien die Aufgabe der Kultur wird. 
  Spätestens mit dem Neuen Testament tritt gegenüber dem bedrohlichen Gebrauch der Netzmetaphorik ein versichernder hervor. Im Gegensatz zum Alten Testament erscheint das Netz nun nicht mehr als ein Mittel des Unheils und der Strafe, denn in der Figur des »Menschenfischers« erfährt es die Umdeutung zu einem Instrument der Rettung und Erlösung.((Vgl. Lucas V,1-10, Matthäus IV,20-21, Marcus I,16, Johannes XXI,6, Timotheus VI,9. Das Netz als Mittel des Verderbens kommt im NT kaum mehr vor, lediglich in Matthäus XXII,15 halten die Pharisäer »einen Rat, wie sie ihn fingen in seiner Rede« (Lutherbibel 1912), wobei das Verb ›fangen‹ (pagideuein) hier auf pagij (›Schlinge‹, ›Netz‹) zurückgeht, desgleichen 1. Timotheus VI,9.)) So gleiche »das Himmelreich einem Netze, das ins Meer geworfen ist […]. Wenn es aber voll ist, so ziehen sie es heraus an das Ufer, sitzen und lesen die guten in ein Gefäß zusammen; aber die faulen werfen sie weg.«((Matthäus XIII,47. Zitiert nach Lutherbibel 1912.)) – Von der Metaphorik der Rettung und des Schutzes zehrt heute etwa noch der Begriff des ›sozialen Netzes‹ staatlicher Institutionen, das Bedürftige in Notsituationen auffängt. Kritiker des Sozialstaates deuten die Metapher wiederum gern zur ›sozialen Hängematte‹ um, in der sich das Verhältnis von Jäger und Opfer umkehrt: Nun erscheint das Netz als die Beute seines Inhaltes. Noch solche Modernisierung der Metapher zehrt von dem Netz als Artefakt. Seine vielfältige Verwendbarkeit als Waffe, als Falle oder Schutzvorrichtung verschafft der Daseinsmetapher einen ambivalenten Deutungsspielraum: Im Netz des Lebens kann man ebenso aufgehoben sein, wie man sich darin verstricken kann.   Spätestens mit dem Neuen Testament tritt gegenüber dem bedrohlichen Gebrauch der Netzmetaphorik ein versichernder hervor. Im Gegensatz zum Alten Testament erscheint das Netz nun nicht mehr als ein Mittel des Unheils und der Strafe, denn in der Figur des »Menschenfischers« erfährt es die Umdeutung zu einem Instrument der Rettung und Erlösung.((Vgl. Lucas V,1-10, Matthäus IV,20-21, Marcus I,16, Johannes XXI,6, Timotheus VI,9. Das Netz als Mittel des Verderbens kommt im NT kaum mehr vor, lediglich in Matthäus XXII,15 halten die Pharisäer »einen Rat, wie sie ihn fingen in seiner Rede« (Lutherbibel 1912), wobei das Verb ›fangen‹ (pagideuein) hier auf pagij (›Schlinge‹, ›Netz‹) zurückgeht, desgleichen 1. Timotheus VI,9.)) So gleiche »das Himmelreich einem Netze, das ins Meer geworfen ist […]. Wenn es aber voll ist, so ziehen sie es heraus an das Ufer, sitzen und lesen die guten in ein Gefäß zusammen; aber die faulen werfen sie weg.«((Matthäus XIII,47. Zitiert nach Lutherbibel 1912.)) – Von der Metaphorik der Rettung und des Schutzes zehrt heute etwa noch der Begriff des ›sozialen Netzes‹ staatlicher Institutionen, das Bedürftige in Notsituationen auffängt. Kritiker des Sozialstaates deuten die Metapher wiederum gern zur ›sozialen Hängematte‹ um, in der sich das Verhältnis von Jäger und Opfer umkehrt: Nun erscheint das Netz als die Beute seines Inhaltes. Noch solche Modernisierung der Metapher zehrt von dem Netz als Artefakt. Seine vielfältige Verwendbarkeit als Waffe, als Falle oder Schutzvorrichtung verschafft der Daseinsmetapher einen ambivalenten Deutungsspielraum: Im Netz des Lebens kann man ebenso aufgehoben sein, wie man sich darin verstricken kann. 
  
 ==== 3.2 Taxonomische Metaphorik der Naturgeschichte (18.-19. Jh.) ==== ==== 3.2 Taxonomische Metaphorik der Naturgeschichte (18.-19. Jh.) ====
  
-Während die ursprüngliche Funktion von Netzen, das Jagen und Fangen, die Metapher zu einem Symbol der Macht und des Schicksals qualifiziert, ist es die eigentümliche Form von Netzen, die den Taxonomien der Naturgeschichte im 18. und 19. Jh. Modell steht, in der das ›Netz des Lebens‹ zu einer epistemischen Metapher avanciert. Die Entdeckung neuer Lebensformen und die zunehmenden Schwierigkeiten ihrer Systematisierung brachten die traditionelle Ordnungsmetapher der ›Kette der Lebewesen‹ (scala naturae) in eine strukturelle Krise und lösten damit eine Serie neuer Modellbildungen aus.((Der Begriff der scala naturae geht zurück auf die Idee einer stufenförmigen Hierarchie der Lebewesen (ἐφεξῆς) bei Aristoteles, vgl. Hist. animalium VIII, 1, 588b–589a; De partibus animalium IV, 5, 681 a; De generatione animalium II 733a 32–b 16; vgl. Heinz Happ: »Die Scala naturae und die Schichtung des Seelischen bei Aristoteles«, in: Ruth Stiehl und Hans Erich Stier (Hg.): Beiträge zur Alten Geschichte und deren Nachleben Bd. 1, Berlin 1969. Zur ihrer christlich-theologischen Erweiterung siehe Arthur O. Lovejoy: The great chain of beingCambridge, Mass 1971.)) Als eines der frühesten Zeugnisse dieser Entwicklung lässt sich die Naturgeschichte des Adriatischen Meeres (1751) anführen, in welcher der italienische Arzt, Archäologe und Botaniker Vitaliano Donati feststellt, dass die Natur stets »unmercklich von einem Gliede ihrer Kette, das ist von einer Art zur andern, fortgehet. Diese Glieder stellen hierbey vielmehr ein Netz als eine Kette vor«.((Vitaliano Donati: Della storia naturale marina dell' AdriaticoVenedig 1751, S. XIX.)) Unter der Prämisse, dass die Natur keine Sprünge mache, wird in den folgenden Jahrzehnten von verschiedenen Naturforschern eine Reihe von Versuchen unternommen, die Verwandtschaftsbeziehungen der Arten in Netzwerk-Diagrammen darzustellen, die sich vom Primat der hierarchischen Stufenleiter lösen.((Unter der Prämisse der naturgeschichtlichen Kontinuität wird die scala naturae damit nicht radikal verworfen, sondern um eine zweite Dimension erweitert. Aus dem Diktum »Natura non facit saltus« schloss  Carl von Linné die Möglichkeit einer kartographischen Darstellung der Arten, vgl. Carl von Linné: Philosophia Botanica, Stockholm 1751, S. 27. Während Linné selbst ein hierarchisches (enkaptisches) Ordnungssystem entwickelte – das auf einer binominalen Nomenklatur aus substantivischem Gattungsnamen mit artspezifischem Zusatz beruht – wurden in der Folge zahlreiche Versuche netzwerkförmiger Gliederungen unternommen, u.a. in Bernardin de Saint-Pierre: Voyge à I'Isle de France, a L'Isle de France de Bourbon, Au Cap de Bonne-Experance etc.:, Neuchatel 1773, S. 104; Johann Philipp Rüling: Ordines Naturales Plantarum Commentatio BotanicaGöttingen 1774; Johannes Hermann: Tabula Affinitatum AnimaliumArgentorati 1783, S. 35; Carl Ludwig Willdenow: »Zufälliger Gedanken über Pflanzengattungen«. In: Magazin für die Botanik Bd. 3 (1790St. 9; August Johann Georg Carl Batsch: Tabula affinitatum regni vegetabilisWeimar 1802, S. XIff.; Georges Louis Leclerc de Buffon: »Nos domestiques carnivores. Du chien«, in: P. Bernard (Hg.): Histoire naturelle Bd. 4, Paris 1804, S. 199–213; Michel-Félix Dunal: Monographie de la famille des AnonacéesParis 1817, S. 21f. Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der NaturgeschichteMünchen, Wien 1976, S. 44–62; Annette Diekmann: Klassifikation - System - 'scala naturae', Stuttgart 1992; Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 33–56; Michael Penkler: Genealogie von NetzwerkkonzeptenWien 2008, S. 12–40; Poliansky: »Das Netzwerk als Natursystem und ästhetische ›Pathosformel‹ der Moderne«.)) In der zunehmenden Unübersichtlichkeit nichtlinearer Repräsentationsverfahren und ihres Drängens in die dritte Dimension zeigen sich bald die Grenzen der Netz-Diagramme. Die Suche nach einer Naturordnung veranlasst auf diese Weise eine Verschiebung der Repräsentations-ebene: Soll das Netz zunächst die morphologischen Ähnlichkeitsbeziehungen der Lebewesen auf einer zweidimensionalen Ebene grafisch anordnen, richtet sich die Re-Metaphorisierung des Modells mit dem beginnenden 19. Jh. auf die funktionalen Relationen zwischen den verschiedenen Lebensformen.((Penkler: Genealogie von Netzwerkkonzepten, S. 12–40.)) Auch, oder gerade dort, wo keine Netzwerk-Diagramme mehr entworfen werden, fungiert die Metapher des Netzes als ein Modell des Naturzusammenhangs.((Carl Ludwig Willdenow: Grundriß der KräuterkundeBerlin 1792, S. 148; Denis Diderot: »Le Rêve de d'Alembert«, in: Friedrich Melchior Grimm (Hg.): Mémoires, correspondance et ouvrages inédits de Diderot Bd. 4(1769), Paris 1830-31; George Cuvier und M. Valenciennes: Histoire naturelle des poissons, Paris, Strasbourg 1828, S. 596.)) Das Netz stellt nun nicht mehr die kontinuierliche Ordnung der sichtbaren Lebensformen, sondern den unsichtbaren Zusammenhang des diskontinuierlichen Ganzen dar. Die Terminologisierung der Metapher zu einem epistemischen Modell markiert den Übergang von der Idee einer gottgegebenen Naturordnung zu einer Wissenschaft des Lebens: der Biologie, in deren Zentrum der Gedanke der ›Entwicklung‹ tritt. Dessen zeitliche Logik, in Gestalt der Abstammungslinie, bedingt schließlich die Prävalenz der Baum-Metapher. Nach einem gescheiterten Versuch, Netz- und Baum-Metapher miteinander zu verbinden, wird sich letztere für lange Zeit als Paradigma der Evolutionstheorie durchsetzen.((Vgl. Lorenz Oken: Abriss des Systems der BiologieGöttingen 1805, S. 203 und Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 51–56.)) Doch einmal als epistemisches Modell etabliert, wird die morphologisch-funktionale Netzmetaphorik im Lauf des 19. Jh. eine Karriere ganz eigener Art erfahren. Grundlage dafür ist ihre zunehmende Lexikalisierung auf Grundlage neuer technischer Entdeckungen und Erfindungen.+Während die ursprüngliche Funktion von Netzen, das Jagen und Fangen, die Metapher zu einem Symbol der Macht und des Schicksals qualifiziert, ist es die eigentümliche Form von Netzen, die den Taxonomien der Naturgeschichte im 18. und 19. Jh. Modell steht, in der das ›Netz des Lebens‹ zu einer epistemischen Metapher avanciert. Die Entdeckung neuer Lebensformen und die zunehmenden Schwierigkeiten ihrer Systematisierung brachten die traditionelle Ordnungsmetapher der ›Kette der Lebewesen‹ (scala naturae) in eine strukturelle Krise und lösten damit eine Serie neuer Modellbildungen aus.((Der Begriff der scala naturae geht zurück auf die Idee einer stufenförmigen Hierarchie der Lebewesen (ἐφεξῆς) bei Aristoteles, vgl. Hist. animalium VIII, 1, 588b–589a; De partibus animalium IV, 5, 681 a; De generatione animalium II 733a 32–b 16; Vgl. Heinz Happ: »Die Scala naturae und die Schichtung des Seelischen bei Aristoteles«, in: Ruth Stiehl und Hans Erich Stier (Hg.): Beiträge zur Alten Geschichte und deren NachlebenBd. 1, Berlin1969. Zur ihrer christlich-theologischen Erweiterung siehe Arthur O. Lovejoy: The great chain of beingCambridge, Mass1971.)) Als eines der frühesten Zeugnisse dieser Entwicklung lässt sich die Naturgeschichte des Adriatischen Meeres (1751) anführen, in welcher der italienische Arzt, Archäologe und Botaniker Vitaliano Donati feststellt, dass die Natur stets »unmercklich von einem Gliede ihrer Kette, das ist von einer Art zur andern, fortgehet. Diese Glieder stellen hierbey vielmehr ein Netz als eine Kette vor«.((Vitaliano Donati: Della storia naturale marina dell' AdriaticoVenedig1751, S. XIX.)) Unter der Prämisse, dass die Natur keine Sprünge mache, wird in den folgenden Jahrzehnten von verschiedenen Naturforschern eine Reihe von Versuchen unternommen, die Verwandtschaftsbeziehungen der Arten in Netzwerk-Diagrammen darzustellen, die sich vom Primat der hierarchischen Stufenleiter lösen.((Unter der Prämisse der naturgeschichtlichen Kontinuität wird die scala naturae damit nicht radikal verworfen, sondern um eine zweite Dimension erweitert. Aus dem Diktum »Natura non facit saltus« schloss Carl von Linné die Möglichkeit einer kartographischen Darstellung der Arten, vgl. Carl von Linné: Philosophia Botanica, Stockholm 1751, S. 27. Während Linné selbst ein hierarchisches (enkaptisches) Ordnungssystem entwickelte – das auf einer binominalen Nomenklatur aus substantivischem Gattungsnamen mit artspezifischem Zusatz beruht – wurden in der Folge zahlreiche Versuche netzwerkförmiger Gliederungen unternommen, u.a. in Bernardin de Saint-Pierre: Voyge à I'Isle de France, a L'Isle de France de Bourbon, Au Cap de Bonne-Experance etc.:, Neuchatel 1773, S. 104; Johann Philipp Rüling: Ordines Naturales Plantarum Commentatio BotanicaGöttingen1774; Johannes Hermann: Tabula Affinitatum AnimaliumArgentorati1783, S. 35; Carl Ludwig Willdenow: »Zufälliger Gedanken über Pflanzengattungen«. In: Magazin für die Botanik Bd. 31790St. 9; August Johann Georg Carl Batsch: Tabula affinitatum regni vegetabilisWeimar1802, S. XIff.; Georges Louis Leclerc de Buffon: »Nos domestiques carnivores. Du chien«, in: P. Bernard (Hg.): Histoire naturelle Bd. 4, Paris1804, S. 199–213; Michel-Félix Dunal: Monographie de la famille des AnonacéesParis1817, S. 21f. Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der NaturgeschichteMünchen, Wien1976, S. 44–62; Annette Diekmann: Klassifikation - System - 'scala naturae', Stuttgart1992; Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 33–56; Michael Penkler: Genealogie von NetzwerkkonzeptenWien2008, S. 12–40; Poliansky: »Das Netzwerk als Natursystem und ästhetische ›Pathosformel‹ der Moderne«.)) In der zunehmenden Unübersichtlichkeit nichtlinearer Repräsentationsverfahren und ihres Drängens in die dritte Dimension zeigen sich bald die Grenzen der Netz-Diagramme. Die Suche nach einer Naturordnung veranlasst auf diese Weise eine Verschiebung der Repräsentationsebene: Soll das Netz zunächst die morphologischen Ähnlichkeitsbeziehungen der Lebewesen auf einer zweidimensionalen Ebene grafisch anordnen, richtet sich die Re-Metaphorisierung des Modells mit dem beginnenden 19. Jh. auf die funktionalen Relationen zwischen den verschiedenen Lebensformen.((Penkler: Genealogie von Netzwerkkonzepten, S. 12–40.)) Auch, oder gerade dort, wo keine Netzwerk-Diagramme mehr entworfen werden, fungiert die Metapher des Netzes als ein Modell des Naturzusammenhangs.((Carl Ludwig Willdenow: Grundriß der KräuterkundeBerlin1792, S. 148; Denis Diderot: »Le Rêve de d'Alembert«, in: Friedrich Melchior Grimm (Hg.): Mémoires, correspondance et ouvrages inédits de Diderot Bd. 4 (1769), Paris1830-31; George Cuvier und M. Valenciennes: Histoire naturelle des poissons, Paris, Strasbourg1828, S. 596.)) Das Netz stellt nun nicht mehr die kontinuierliche Ordnung der sichtbaren Lebensformen, sondern den unsichtbaren Zusammenhang des diskontinuierlichen Ganzen dar. Die Terminologisierung der Metapher zu einem epistemischen Modell markiert den Übergang von der Idee einer gottgegebenen Naturordnung zu einer Wissenschaft des Lebens: der Biologie, in deren Zentrum der Gedanke der ›Entwicklung‹ tritt. Dessen zeitliche Logik, in Gestalt der Abstammungslinie, bedingt schließlich die Prävalenz der Baum-Metapher. Nach einem gescheiterten Versuch, Netz- und Baum-Metapher miteinander zu verbinden, wird sich letztere für lange Zeit als Paradigma der Evolutionstheorie durchsetzen.((Vgl. Lorenz Oken: Abriss des Systems der BiologieGöttingen1805, S. 203 und Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 51–56.)) Doch einmal als epistemisches Modell etabliert, wird die morphologisch-funktionale Netzmetaphorik im Lauf des 19. Jh. eine Karriere ganz eigener Art erfahren. Grundlage dafür ist ihre zunehmende Lexikalisierung durch neue technische Entdeckungen und Erfindungen.
  
 ==== 3.3 Morphologische Netzmetaphorik und Lexikalisierungen bis zum 19. Jh. ==== ==== 3.3 Morphologische Netzmetaphorik und Lexikalisierungen bis zum 19. Jh. ====
  
-Schon seit frühester Zeit hat die Struktur von Netzen zu morphologischen Übertragungen eingeladen. So vergleichen die antiken Ärzte die Haut des Augenhintergrundes mit einem Fischernetz: daher noch immer der Name ›Netzhaut‹.((Vgl. »Netzhaut«, in: Kluge (Hg.): Etymologisches Wörterbuch, Berlin 1999, S. 586–587.)) Als Bezeichnung für eine römische Bautechnik etabliert sich während der republikanischen Zeit der Begriff opus reticulatum (also ›Netz-Werk‹)  für eine »eigenthümliche netzartige verbindung der mauersteine mit diagonal laufenden fugen«.((»Netzwerk«: Deutsches Wörterbuch, München 1984, S. 644–657.)) In der Geometrie hat sich der Begriff des Netzes für Körperschnitte, also das ›Auffalten‹ der Oberfläche dreidimensionaler Objekten etabliert.((»Netz« (1740), in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, Graz 1994, 2003.)) Doch vor allem in der Anatomie etabliert sich der Begriff ›Netz‹ als Bezeichnung verschiedener Gewebetypen und Organteile. So wurde das Bauchfell (omentum) seit der Antike auch ›Netz‹ genannt, aber nicht – wie der flämische Arzt und Begründer der modernen Anatomie Andreas Vesalius in De humani corporis fabrica (1543) schreibt – wegen der Struktur der sich verzweigenden Blutgefäße, sondern weil es wie ein aufgehängtes Fischernetz in den Eingeweiden hängt.((Andreas Vesalius: De Humani Corporis Fabrica libri septemBasel 1543, S. 497. Vgl. Andreas Vesalius: On the fabric of the human body, hg. von William Frank Richardson und John Burd CarmanNovato Calif 2007.)) Erst die Erfindung des Mikroskops ermöglichte die Entdeckung und Beschreibung feiner netzartiger Strukturen in Pflanzen und Tieren.((Vgl. Marcellus Malpighi: Die Anatomie der PflanzenFrankfurt am Main 1999.)) Diese führen auch zu entsprechenden Namensgebungen; so wird das nach dem italienischen Physiologen und Begründer der mikroskopischen Anatomie Marcello Malpighi (1628-1694) das rete Malphigii als eine Bezeichnung für die von ihm entdeckten rete mirabile (›Wundernetz‹) und rete epidermalia eingeführt.((Malphigi entdeckt 1661 den Kappilarkreislauf in der Lunge. Vgl. Marcellus Malpighi: »De Pulmonibus. Epistola I.«: Opera Omnia Bd. 2, London 1686, S. 134.)) +Schon seit frühester Zeit hat die Struktur von Netzen zu morphologischen Übertragungen eingeladen. So vergleichen die antiken Ärzte die Haut des Augenhintergrundes mit einem Fischernetz: daher noch immer der Name ›Netzhaut‹.((Vgl. »Netzhaut«, in: Kluge (Hg.): Etymologisches Wörterbuch, Berlin1999, S. 586–587.)) Als Bezeichnung für eine römische Bautechnik etabliert sich während der republikanischen Zeit der Begriff opus reticulatum (also ›Netz-Werk‹)  für eine »eigenthümliche netzartige verbindung der mauersteine mit diagonal laufenden fugen«.((»Netzwerk«: Deutsches Wörterbuch, München 1984, S. 644–657.)) In der Geometrie hat sich der Begriff des Netzes für Körperschnitte, also das ›Auffalten‹ der Oberfläche dreidimensionaler Objekte etabliert.((»Netz« (1740), in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, Graz1994, 2003.)) Doch vor allem in der Anatomie etabliert sich der Begriff ›Netz‹ als Bezeichnung verschiedener Gewebetypen und Organteile. So wurde das Bauchfell (omentum) seit der Antike auch ›Netz‹ genannt, aber nicht – wie der flämische Arzt und Begründer der modernen Anatomie Andreas Vesalius in De humani corporis fabrica (1543) schreibt – wegen der Struktur der sich verzweigenden Blutgefäße, sondern weil es wie ein aufgehängtes Fischernetz in den Eingeweiden hängt.((Andreas Vesalius: De Humani Corporis Fabrica libri septemBasel1543, S. 497. Vgl. Andreas Vesalius: On the fabric of the human body, hg. von William Frank Richardson und John Burd CarmanNovato Calif2007.)) Erst die Erfindung des Mikroskops ermöglichte die Entdeckung und Beschreibung feiner netzartiger Strukturen in Pflanzen und Tieren.((Vgl. Marcellus Malpighi: Die Anatomie der PflanzenFrankfurt am Main1999.)) Diese führen auch zu entsprechenden Namensgebungen; so wird das nach dem italienischen Physiologen und Begründer der mikroskopischen Anatomie Marcello Malpighi (1628-1694) das rete Malphigii als eine Bezeichnung für die von ihm entdeckten rete mirabile (›Wundernetz‹) und rete epidermalia eingeführt.((Malphigi entdeckt 1661 den Kapilarkreislauf in der Lunge. Vgl. Marcellus Malpighi: »De Pulmonibus. Epistola I.«: Opera Omnia Bd. 2, London1686, S. 134.)) 
-Während des 18. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Terminologisierung der Metapher beobachten. Samuel Johnsons Dictionary of the English Language (1755) definiert das Wort ›network‹ als einen abstrakten morphologischen Begriff, der alles meint, was eine netzförmige Struktur mit gleichmäßigen Maschen aufweist: »Any thing reticulated or decussated, at equal distances, with interstices between the intersections.«((Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language, Vol II., London 1755, S. 139.)) In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1740) findet sich ein Eintrag zum Begriff »Netz-Werck«, der hier als »aderichtes« aber nur jene von Malpighi entdeckte Gewebeart (Rete vasculare) bezeichnet.((»Netz-Werck (aderichtes). Rete vasculare« (1740), in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, Graz 1994, S. 2022.)) Das 26 Jahre später erschienene, sehr einflussreiche Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1793-1801) von Johann Christoph Adelung kennt den Begriff ›Netzwerk‹ wiederum gar nicht. Doch behandelt der entsprechende Eintrag zum »Netz« die anatomischen Bezeichnung für verschiedene Gewebe und Organteile als »figürlich«, d.h. als metaphorisch.((»Netz« (1774-1786), in: Johann Christoph Adelung (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart Bd. 3, Leipzig 1793-1801, S. 473.)) +Während des 18. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Terminologisierung der Metapher beobachten. Samuel Johnsons Dictionary of the English Language (1755) definiert das Wort ›network‹ als einen abstrakten morphologischen Begriff, der alles meint, was eine netzförmige Struktur mit gleichmäßigen Maschen aufweist: »Any thing reticulated or decussated, at equal distances, with interstices between the intersections.«((Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language, Vol II., London1755, S. 139.)) In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1740) findet sich ein Eintrag zum Begriff »Netz-Werck«, der hier als »aderichtes« aber nur jene von Malpighi entdeckte Gewebeart (Rete vasculare) bezeichnet.((»Netz-Werck (aderichtes). Rete vasculare« (1740), in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, Graz1994, S. 2022.)) Das 26 Jahre später erschienene, sehr einflussreiche Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1793-1801) von Johann Christoph Adelung kennt den Begriff ›Netzwerk‹ wiederum gar nicht. Doch behandelt der entsprechende Eintrag zum »Netz« die anatomischen Bezeichnung für verschiedene Gewebe und Organteile als »figürlich«, d.h. als metaphorisch.((»Netz« (1774-1786), in: Johann Christoph Adelung (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart Bd. 3, Leipzig1793-1801, S. 473.)) 
-Während des 19. Jh. verschwindet diese Klassifikation, die also eine ›uneigentliche‹ Redeweise bezeichnet und eine Vielzahl neuer ›Netz‹-Komposita beginnt den deutschen Wortschatz zu bereichern, die sich vor allem dem technischen Fortschritt verdanken. Anhand der zahlreichen Lexika und Wörterbücher des 19. Jahrhunderts lässt sich diese Entwicklung gut nachvollziehen: das lexikalische Feld von Netzen expandiert in der Mitte des 19. Jahrhunderts rapide und die Häufigkeit der Komposita übersteigt schließlich die Häufigkeit des Grundwortes.((Vgl. Friedrich)) Je nach Stand der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung spricht man nun zunehmend von Fernmeldenetzen, Leitungsnetzen, Stromnetzen, Wassernetzen oder Beobachtungsnetzen. Die neuen technischen Infrastrukturen, die sich rasch über die Welt ausbreiteten und rasante Veränderungen mit sich brachten, eröffnen eine gänzlich neue Bedeutung von ›Netzen‹ und ›Netzwerken‹, die mit ihrer archaischen und morphologischen Bedeutung zunächst überhaupt nichts mehr zu tun hat: die Verbindung und Verteilung von Zeichen, Strömen und Körpern. Waren Netze bisher Vorrichtungen des Fangens und Jagens, werden sie nun zu Einrichtungen des Verteilens und Verbindens. Die physikalische Funktionsweise und die gesellschaftliche Bedeutung der technischen Netze sowie die Analogiebildung zu  anatomischen und physiologischen Modellen stiftete zum wesentlichen Teil die Grundlage der Bedeutung des modernen Netzwerk-Begriffs.((Vgl. Laura Otis: NetworkingAnn Arbor 2001, S. 2 und Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): NetzwerkeKöln 2004, S. 128–129.)) Dass die neuen technischer Versorgungs- und Kommunikationssysteme aber überhaupt ›Netze‹ bzw. ›Netzwerke‹ genannt werden, hat zunächst morphologische Gründe.+Während des 19. Jh. verschwindet diese Klassifikation, die also eine ›uneigentliche‹ Redeweise bezeichnet und eine Vielzahl neuer ›Netz‹-Komposita beginnt den deutschen Wortschatz zu bereichern, die sich vor allem dem technischen Fortschritt verdanken. Anhand der zahlreichen Lexika und Wörterbücher des 19. Jahrhunderts lässt sich diese Entwicklung gut nachvollziehen: das lexikalische Feld von Netzen expandiert in der Mitte des 19. Jahrhunderts rapide und die Häufigkeit der Komposita übersteigt schließlich die Häufigkeit des Grundwortes.((Vgl. Friedrich)) Je nach Stand der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung spricht man nun zunehmend von Fernmeldenetzen, Leitungsnetzen, Stromnetzen, Wassernetzen oder Beobachtungsnetzen. Die neuen technischen Infrastrukturen, die sich rasch über die Welt ausbreiteten und rasante Veränderungen mit sich brachten, eröffnen eine gänzlich neue Bedeutung von ›Netzen‹ und ›Netzwerken‹, die mit ihrer archaischen und morphologischen Bedeutung zunächst überhaupt nichts mehr zu tun hat: die Verbindung und Verteilung von Zeichen, Strömen und Körpern. Waren Netze bisher Vorrichtungen des Fangens und Jagens, werden sie nun zu Einrichtungen des Verteilens und Verbindens. Die physikalische Funktionsweise und die gesellschaftliche Bedeutung der technischen Netze sowie die Analogiebildung zu  anatomischen und physiologischen Modellen stiftete zum wesentlichen Teil die Grundlage der Bedeutung des modernen Netzwerk-Begriffs.((Vgl. Laura Otis: NetworkingAnn Arbor2001, S. 2 und Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): NetzwerkeKöln2004, S. 128–129.)) Dass die neuen technischen Versorgungs- und Kommunikationssysteme aber überhaupt ›Netze‹ bzw. ›Netzwerke‹ genannt werden, hat zunächst morphologische Gründe.
  
 ===== 4. Infrastrukturnetze im 19. Jh. ===== ===== 4. Infrastrukturnetze im 19. Jh. =====
  
-Als topologisches Modell dient das ›Netz‹ der Modellierung der ersten Eisenbahnsysteme. 1835 veröffentlicht der führende deutsche Wirtschaftswissenschaftler Georg Friedrich List einen Artikel über Eisenbahnen im Pfennig-Magazin – der ersten deutschen Illustrierten, mit einer wöchentlichen Auflage von bis zu 100.000 Exemplaren. In dem Artikel beschäftigt sich List mit methodischen Überlegungen zur Entwicklung eines deutschen Schienennetzes.((Friedrich List: »Über Eisenbahnen und das deutsche Eisenbahnsystem«, 07.03.1835. In: Das Pfennig-Magazin Bd. 3 (1835101.)) In diesem Text kommt das Netz als Begriff noch nicht vor. Doch sieht man es auf dem Titelblatt: in Gestalt einer kartographischen Skizze. Drei Jahre später veröffentlicht List eine Abhandlung über Das deutsche National-Transport-System, in dem »Eisenbahnnetz« als Terminus erstmals nachweislich auftaucht.((Friedrich List: Das deutsche National-Transport-System in volks- und staatswirthschaftlicher BeziehungBerlin 1988, S. 13.)) In dieser Abhandlung, die ein Nachdruck seines 1937 publizierten Lexikon-Artikels über »Eisenbahnen« in der Enzyklopädie der Staatswissenschaften ist, prognostiziert List, dass »sich die Eisenbahnsysteme aller großen Continental-Nationen netzartig gestalten [werden], so daß sie von den Hauptstädten nach den Hauptgrenz-Punkten ausstrahlen.«((Friedrich List: »Eisenbahnen. Die wirthschaftliche, soziale und politische Bedeutung derselben. Statistik der Eisenbahnen«, in: Carl von Rotteck und Karl Theodor Welcker (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften Bd. 4 (1837), Altona 1834–1843, S. 742.)) Während sich Frankreich an die Prognose hält, entwickelte sich das deutsche Schienennetz aus politischen Gründen nicht nach diesem Idealbild. So prägt der deutsche Geograph und Publizist Oscar Ferdinand Peschel (1826–1875) in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine bis in das 20. Jh. hinein zitierte Sentenz bezüglich der unterschiedlichen Bauweise beider Systeme: »Das französische Bahnnetz  […] ist ein Spinnennetz, das deutsche ein Fischernetz.«((J. F. Schreiber: Eisenbahnen als öffentliche Verkehrseinrichtungen und ihre tariff Politik 1887, S. 213))+Als topologisches Modell dient das ›Netz‹ der Modellierung der ersten Eisenbahnsysteme. 1835 veröffentlicht der führende deutsche Wirtschaftswissenschaftler Georg Friedrich List einen Artikel über Eisenbahnen im Pfennig-Magazin – der ersten deutschen Illustrierten, mit einer wöchentlichen Auflage von bis zu 100.000 Exemplaren. In dem Artikel beschäftigt sich List mit methodischen Überlegungen zur Entwicklung eines deutschen Schienennetzes.((Friedrich List: »Über Eisenbahnen und das deutsche Eisenbahnsystem«, 07.03.1835. In: Das Pfennig-Magazin Bd. 31835, S. 101.)) In diesem Text kommt das Netz als Begriff noch nicht vor. Doch sieht man es auf dem Titelblatt: in Gestalt einer kartographischen Skizze. Drei Jahre später veröffentlicht List eine Abhandlung über Das deutsche National-Transport-System, in dem »Eisenbahnnetz« als Terminus erstmals nachweislich auftaucht.((Friedrich List: Das deutsche National-Transport-System in volks- und staatswirthschaftlicher BeziehungBerlin1988, S. 13.)) In dieser Abhandlung, die ein Nachdruck seines 1937 publizierten Lexikon-Artikels über »Eisenbahnen« in der Enzyklopädie der Staatswissenschaften ist, prognostiziert List, dass »sich die Eisenbahnsysteme aller großen Continental-Nationen netzartig gestalten [werden], so daß sie von den Hauptstädten nach den Hauptgrenz-Punkten ausstrahlen.«((Friedrich List: »Eisenbahnen. Die wirthschaftliche, soziale und politische Bedeutung derselben. Statistik der Eisenbahnen«, in: Carl von Rotteck und Karl Theodor Welcker (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften Bd. 4 (1837), Altona1834–1843, S. 742.)) Während sich Frankreich an die Prognose hält, entwickelte sich das deutsche Schienennetz aus politischen Gründen nicht nach diesem Idealbild. So prägt der deutsche Geograph und Publizist Oscar Ferdinand Peschel (1826–1875) in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine bis in das 20. Jh. hinein zitierte Sentenz bezüglich der unterschiedlichen Bauweise beider Systeme: »Das französische Bahnnetz  […] ist ein Spinnennetz, das deutsche ein Fischernetz.«((J. F. Schreiber: Eisenbahnen als öffentliche Verkehrseinrichtungen und ihre tariff Politik 1887, S. 213))
 Die Einführung und Durchsetzung der Netzmetapher für die neuen technischen Infrastrukturen beruht damit auf einer räumlichen Abstraktion und kartographischen Repräsentation mehr oder weniger zentralistisch organisierter politischer und wirtschaftlicher Räume. Wie schon im Kontext der Naturgeschichte erfolgt die Lexikalisierung der Metapher hier im Medium des Diagramms. Dasselbe gilt auch für die sich rasch entwickelnde elektrische Telegraphie. Analog zu den Eisenbahnen gibt die Einrichtung systematischer Querverbindungen zwischen den einzelnen, zentral verknüpften Telegraphenleitungen dazu Anlass, von Netzen zu sprechen.((Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 57f.)) Die mit der neuen Technik zu Beginn des Zeitalters der Industrialisierung verbundenen kulturellen Irritationen und sozialen Spannungen führen dabei zu einer wiederholten Re-Metaphorisierung des lexikalisierten Begriffs und ihrer Verknüpfung mit der in der morphologischen Abstraktion ausgeblendeten Macht- und Beutemetaphorik, die sich z.B. in Karikaturen von Dampflokomotiven und Eisenbahnmoguln als Spinnen in einem bedrohlichen Netz zeigen.((Beyrer: »Gebahnte Wege«, S. 75 und Otis: Networking, S. 89.)) Umgekehrt beginnt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, gleichsam rückwärts, in die morphologische Metapher einzuschreiben.  Die Einführung und Durchsetzung der Netzmetapher für die neuen technischen Infrastrukturen beruht damit auf einer räumlichen Abstraktion und kartographischen Repräsentation mehr oder weniger zentralistisch organisierter politischer und wirtschaftlicher Räume. Wie schon im Kontext der Naturgeschichte erfolgt die Lexikalisierung der Metapher hier im Medium des Diagramms. Dasselbe gilt auch für die sich rasch entwickelnde elektrische Telegraphie. Analog zu den Eisenbahnen gibt die Einrichtung systematischer Querverbindungen zwischen den einzelnen, zentral verknüpften Telegraphenleitungen dazu Anlass, von Netzen zu sprechen.((Gießmann: Netze und Netzwerke, S. 57f.)) Die mit der neuen Technik zu Beginn des Zeitalters der Industrialisierung verbundenen kulturellen Irritationen und sozialen Spannungen führen dabei zu einer wiederholten Re-Metaphorisierung des lexikalisierten Begriffs und ihrer Verknüpfung mit der in der morphologischen Abstraktion ausgeblendeten Macht- und Beutemetaphorik, die sich z.B. in Karikaturen von Dampflokomotiven und Eisenbahnmoguln als Spinnen in einem bedrohlichen Netz zeigen.((Beyrer: »Gebahnte Wege«, S. 75 und Otis: Networking, S. 89.)) Umgekehrt beginnt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, gleichsam rückwärts, in die morphologische Metapher einzuschreiben. 
  
 ===== 5. Neurophysiologische Netzmetaphorik im 19. Jh. ===== ===== 5. Neurophysiologische Netzmetaphorik im 19. Jh. =====
  
-Die Lexikalisierung der morphologischen Metapher für biologische Gewebe und der funktionalen für technische Infrastrukturen erfährt im Laufe des 19. Jh. eine folgenreiche Verknüfung auf Grundlage einer wirkmächtigen Analogiebildung zwischen der Telegraphie und dem Nervensystem. Die Art dieser Analogiebildung zwischen technologischen und physiologischen Kommunikationsmodellen bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin und Biologin Laura Otis als eine ›metaphorische Feedbackschleife‹.((Ebd.)) Denn die Übertragung der Metpaher findet in beide Richtungen statt.((Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der ModerneKöln 2004, S. 127-154.)) +Die Lexikalisierung der morphologischen Metapher für biologische Gewebe und der funktionalen für technische Infrastrukturen erfährt im Laufe des 19. Jh. eine folgenreiche Verknüfung auf Grundlage einer wirkmächtigen Analogiebildung zwischen der Telegraphie und dem Nervensystem. Die Art dieser Analogiebildung zwischen technologischen und physiologischen Kommunikationsmodellen bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin und Biologin Laura Otis als eine ›metaphorische Feedbackschleife‹.((Ebd.)) Denn die Übertragung der Metpaher findet in beide Richtungen statt.((Christian J. Emden: »Epistemische Konstellationen 1800-1900«, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Köln, 2004, S. 127-154.)) 
-So bezeichnete der Ingenieur und Erfinder des Telegraphencodes Samuel Morse 1838 die Telegraphenleitungen explizit als Nervenbahnen, die Informationen über alle möglichen Vorkommnisse im ganzen Land verbreiten sollen.((Samuel F. B. Morse: Samuel F. B. Morse: His Letters and Journals, hg. von Edward Lind Morse, Boston 1914, vol. 2, p. 85.)) Etwa 10 Jahre später kehrt der Begründer der experimentellen Elektrophysiologe Emil Du Bois-Reymond diesen Vergleich um und verknüpft ihn mit dem Bild des Spinnennetzes:  +So bezeichnete der Ingenieur und Erfinder des Telegraphencodes Samuel Morse 1838 die Telegraphenleitungen explizit als Nervenbahnen, die Informationen über alle möglichen Vorkommnisse im ganzen Land verbreiten sollen.((Samuel F. B. Morse: His Letters and Journals, hg. von Edward Lind Morse, Boston1914, vol. 2, S. 85.)) Etwa 10 Jahre später kehrt der Begründer der experimentellen Elektrophysiologe Emil Du Bois-Reymond diesen Vergleich um und verknüpft ihn mit dem Bild des Spinnennetzes:  
-Denn so »wie die Zentralstation der elektrischen Telegraphen im Postgebäude in der Königsstraße durch das riesenhafte Spinngewebe ihrer Kupferdrähte mit den äußersten Grenzen der Monarchie im Verkehr steht, so empfängt auch die Seele in ihrem Bureau, dem Gehirn, durch ihre Telegraphendrähte, die Nerven, unaufhörlich Depechen von allen Grenzen ihres Reiches, des Körpers, und teilt nach allen Richtungen Befehle an ihre Beamten, die Muskeln aus.«((Emil Du Bois-Reymond: Über thierische BewegungBerlin 1851, S. 29.)) +Denn so »wie die Zentralstation der elektrischen Telegraphen im Postgebäude in der Königsstraße durch das riesenhafte Spinngewebe ihrer Kupferdrähte mit den äußersten Grenzen der Monarchie im Verkehr steht, so empfängt auch die Seele in ihrem Bureau, dem Gehirn, durch ihre Telegraphendrähte, die Nerven, unaufhörlich Depechen von allen Grenzen ihres Reiches, des Körpers, und teilt nach allen Richtungen Befehle an ihre Beamten, die Muskeln aus.«((Emil Du Bois-Reymond: Über thierische BewegungBerlin1851, S. 29.)) 
-Indem das Bild des Spinnennetzes sich der Architektur des königlichen Fernmeldewesens verdankt, visualisiert die Metapher die zentralistisch organisierte Kommunikationstechnik. Die morphologische Übertragung erfolgt hier analog zum Eisenbahnsyytem. Doch wird nun über das hierarchische Kommunikationssystem der Monarchie und ihre technische Infrastruktur auf den Nervenapparat des Körpers übertragen. Einige Sätze später kehrt der Physiologe die Relation jedoch wieder um, indem er erklärt, dass das »Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie, […] längst in der thierischen Maschine vorgebildet«((Ebd., S. 30.)) gewesen sei. Durch diese Umkehrung der Übertragung entsteht nun jene ›metaphorische Feedbackschleife‹, von der Otis spricht: Soll das Nervensystem erst in Begriffen der elektrischen Telegraphie gedacht werden, fordert die Analogie nun dazu auf, die elektrische Telegraphie in Begriffen des Nervensystems zu denken. Du Bois-Reymond rechtfertigt diese Zirkularität mit dem Verweis auf eine innere Verwandtschaft beider Phänomene: »es ist Verwandtschaft zwischen beiden da, Uebereinstimmung nicht allein der Wirkungen, sondern vielleicht auch der Ursachen.«((Ebd.)) Weil es zu diesem Zeitpunkt aber weder für die Elektrizität noch für die Reizübertragung wissenschaftlich Erklärungen gibt, verweisen beide Referenzen der Analogie auf unbekannte Phänomene – was ihre Produktivität eher fördern als stören wird.((Maxwell präsentiert seine einheitliche Theorie des Elektromagnetismus 1864 der Royal Society in: James Clerk Maxwell: »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London Bd. 155 (1865) und das Phänomen der Reizübertragung wird die Neurophysiologie noch mehr als ein Jahrhundert beschäftigen, vgl. Edwin Clarke und Charles Donald O'Malley: The human brain and spinal cord, Berkeley, Los Angeles 1968.)) +Indem das Bild des Spinnennetzes sich der Architektur des königlichen Fernmeldewesens verdankt, visualisiert die Metapher die zentralistisch organisierte Kommunikationstechnik. Die morphologische Übertragung erfolgt hier analog zum Eisenbahnsystem. Doch wird nun das hierarchische Kommunikationssystem der Monarchie und ihre technische Infrastruktur auf den Nervenapparat des Körpers übertragen. Einige Sätze später kehrt der Physiologe die Relation jedoch wieder um, indem er erklärt, dass das »Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie, […] längst in der thierischen Maschine vorgebildet«((Ebd., S. 30.)) gewesen sei. Durch diese Umkehrung der Übertragung entsteht nun jene ›metaphorische Feedbackschleife‹, von der Otis spricht: Soll das Nervensystem erst in Begriffen der elektrischen Telegraphie gedacht werden, fordert die Analogie nun dazu auf, die elektrische Telegraphie in Begriffen des Nervensystems zu denken. Du Bois-Reymond rechtfertigt diese Zirkularität mit dem Verweis auf eine innere Verwandtschaft beider Phänomene: »es ist Verwandtschaft zwischen beiden da, Uebereinstimmung nicht allein der Wirkungen, sondern vielleicht auch der Ursachen.«((Ebd.)) Weil es zu diesem Zeitpunkt aber weder für die Elektrizität noch für die Reizübertragung wissenschaftlich Erklärungen gibt, verweisen beide Referenzen der Analogie auf unbekannte Phänomene – was ihre Produktivität eher fördern als stören wird.((Maxwell präsentiert seine einheitliche Theorie des Elektromagnetismus 1864 der Royal Society in: James Clerk Maxwell: »A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field«. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London Bd. 155 (1865) und das Phänomen der Reizübertragung wird die Neurophysiologie noch mehr als ein Jahrhundert beschäftigen, vgl. Edwin Clarke und Charles Donald O'Malley: The human brain and spinal cord, Berkeley, Los Angeles1968.)) 
-In den folgenden anatomischen Debatten des 19. und noch des 20. Jahrhunderts führt die Metapher zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse. Seit der italienische Physiologe Camillo Golgi eine äußerst effektive Methode zur Einfärbung und Mikroskopierung von Nervenzellen entwickelt hat, haben sich zwei rivalisierende Gruppen von Neurohistologen entwickelt: Auf der einen Seite die ›Neuronisten‹ (zu gr. neûron, Nerv), auf der anderen die ›Retikulatisten‹ (zu l. reticulum, Netz). Golgi selbst gilt als der berühmteste Vertreter der letzteren, die aufgrund ihrer Beobachtungen zu der Auffassung gelangt sind, dass das ganze Nervensystem ein zusammenhängendes Netz aus Fasern, also jede Nervenzelle mit ihren Nachbarn physisch verbunden ist. Dem widersprechen ihre Gegner, die Neuronisten, vehement.((Vgl. Ebd.)) Deren bekanntester Vertreter ist der spanische Arzt Santiago Ramón y Cajal, mit dem sich Golgi 1906 den Nobelpreis für Medizin teilt. Ramón y Cajal benutzt dieselbe von Golgi entwickelte Mikroskopiertechnik, kann aber nirgends physische Verbindungen zwischen den Zellen ausmachen; so mochten für ihn die Fasern zwar komplexe Geflechte miteinander bilden: »but never a net«.((Santiago Ramón y Cajal: »Estructura del cerebrelo«. In: Gaceta Médica Catalana (188811, S. 455–457.  In: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Stattdessen sieht er in den Nervenfasern selbstständige Einheiten nach dem Vorbild einer politischen Föderation – jede Zelle sei »absolutely autonomous physiological canton«.((Ebd., S. 455–457, in: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Der Streit zwischen den Neuronisten und den Retikularisten wird erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops und dem Nachweis des synaptischen Spaltes beigelegt. Die mehrere Jahrzehnte anhaltende wissenschaftliche Kontroverse zwischen beiden Lagern hat sich aber nicht zuletzt auch aus sehr unterschiedlichen Auffassungen von Netzen gespeist. Während Golgis Netzmetaphorik die organische Integration der Teile zu einem Ganzen zum Ausdruck bringen will, weist Ramón y Cajal die Metaphorik zurück, weil sie für ihn mit der Autonomie und Entwicklungsfähigkeit des Individuums in Konflikt steht.((Vgl. Santiago Ramón y Cajal: »The Croonian Lecture: La Fine Structure des Centres Nerveux«. In: Proceedings of the Royal Society Bd. 55 (1894), S. 467–468.))+In den folgenden anatomischen Debatten des 19. und noch des 20. Jahrhunderts führt die Metapher zu einer heftigen wissenschaftlichen Kontroverse. Seit der italienische Physiologe Camillo Golgi eine äußerst effektive Methode zur Einfärbung und Mikroskopierung von Nervenzellen entwickelt hat, haben sich zwei rivalisierende Gruppen von Neurohistologen entwickelt: Auf der einen Seite die ›Neuronisten‹ (zu gr. neûron, Nerv), auf der anderen die ›Retikulatisten‹ (zu l. reticulum, Netz). Golgi selbst gilt als der berühmteste Vertreter der letzteren, die aufgrund ihrer Beobachtungen zu der Auffassung gelangt sind, dass das ganze Nervensystem ein zusammenhängendes Netz aus Fasern, also jede Nervenzelle mit ihren Nachbarn physisch verbunden ist. Dem widersprechen ihre Gegner, die Neuronisten, vehement.((Vgl. Ebd.)) Deren bekanntester Vertreter ist der spanische Arzt Santiago Ramón y Cajal, mit dem sich Golgi 1906 den Nobelpreis für Medizin teilt. Ramón y Cajal benutzt dieselbe von Golgi entwickelte Mikroskopiertechnik, kann aber nirgends physische Verbindungen zwischen den Zellen ausmachen; so mochten für ihn die Fasern zwar komplexe Geflechte miteinander bilden: »but never a net«.((Santiago Ramón y Cajal: »Estructura del cerebrelo«. In: Gaceta Médica Catalana188811, S. 455–457. In: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Stattdessen sieht er in den Nervenfasern selbstständige Einheiten nach dem Vorbild einer politischen Föderation – jede Zelle sei »absolutely autonomous physiological canton«.((Ebd., S. 455–457, in: Clarke and O'Malley: The human brain, S. 112.)) Der Streit zwischen den Neuronisten und den Retikularisten wird erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops und dem Nachweis des synaptischen Spaltes beigelegt. Die mehrere Jahrzehnte anhaltende wissenschaftliche Kontroverse zwischen beiden Lagern hat sich aber nicht zuletzt auch aus sehr unterschiedlichen Auffassungen von Netzen gespeist. Während Golgis Netzmetaphorik die organische Integration der Teile zu einem Ganzen zum Ausdruck bringen will, weist Ramón y Cajal die Metaphorik zurück, weil sie für ihn mit der Autonomie und Entwicklungsfähigkeit des Individuums in Konflikt steht.((Vgl. Santiago Ramón y Cajal: »The Croonian Lecture: La Fine Structure des Centres Nerveux«. In: Proceedings of the Royal Society Bd. 551894, S. 467–468.))
  
-===== 6. Modernernisierung des Netzwerkbegriffs 20. und 21. Jh. =====+===== 6. Modernisierung des Netzwerkbegriffs im 20. und 21. Jh. =====
  
 Während in den wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts die alte Bedeutung von Netzen, das Fangen und Schützen, von ihrer neuen Bedeutung, dem Übertragen und Verbinden, in den Hintergrund gedrängt wird, schreibt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, sozusagen rückwärts, in die ursprünglich morphologische Metapher ein und transformiert sie in einen gleichsam strukturfunktionalistischen Begriff. Das Resultat dieser Transformation ist eine Verbindung der morphologischen Vorstellung von Netzen (Struktur) mit der prozessualen Idee der Interaktion (Funktion). Vor dem 19. Jahrhundert haben Netzwerke nicht kommuniziert oder interagiert, mit dem 20. Jahrhundert wird es zu ihrer Hauptsache. Nun erhält der Begriff des N. eine weit umfassendere Bedeutung: die der Selbst-Organisation, etwa von biologischen, sozialen, technischen und ökologischen Systemen oder komplexen Gefügen. Das wird die Bedeutung des Begriffs N. maßgeblich erweitern und verändern, mit dem sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jh., maßgeblich seit den 1980er Jahren, zunehmend mit außerwissenschaftlichen Erwartungen verbindet. Während in den wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts die alte Bedeutung von Netzen, das Fangen und Schützen, von ihrer neuen Bedeutung, dem Übertragen und Verbinden, in den Hintergrund gedrängt wird, schreibt sich die Funktion der neuen technischen Netzwerke, also das Verbinden und Verteilen von Körpern, Zeichen und Strömen, sozusagen rückwärts, in die ursprünglich morphologische Metapher ein und transformiert sie in einen gleichsam strukturfunktionalistischen Begriff. Das Resultat dieser Transformation ist eine Verbindung der morphologischen Vorstellung von Netzen (Struktur) mit der prozessualen Idee der Interaktion (Funktion). Vor dem 19. Jahrhundert haben Netzwerke nicht kommuniziert oder interagiert, mit dem 20. Jahrhundert wird es zu ihrer Hauptsache. Nun erhält der Begriff des N. eine weit umfassendere Bedeutung: die der Selbst-Organisation, etwa von biologischen, sozialen, technischen und ökologischen Systemen oder komplexen Gefügen. Das wird die Bedeutung des Begriffs N. maßgeblich erweitern und verändern, mit dem sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jh., maßgeblich seit den 1980er Jahren, zunehmend mit außerwissenschaftlichen Erwartungen verbindet.
-So erklärten sich die Herausgeber eines 1987 erschienenen Sammelbands über Soziale Netzwerke die Konjunktur des Netzwerk-Konzeptes vor allem mit lebhaften sozialen Utopien, die sich mit dem Konzept verbinden.((Heiner Keupp: »Soziale Netzwerke. Eine Metapher gesellschaftlichen Umbruchs?«, in: Heiner Keupp und Bernd Röhrle (Hg.): Soziale Netzwerke, Frankfurt/M., New York 1987, S. 12.)) Zu diesem Zeitpunkt existieren bereits unterschiedliche Begriffe von sozialen Netzwerken. In der Ethnologie beschreibt er das informelle Beziehungsgeflecht einer Person, in der Sozialanthropologie indessen die quantifizierbare Struktur größerer Gruppen.((Bernhard Streck: »Netzwerk«, in: Bernhard Streck, John Eidson und Katrin Berndt (Hg.): Wörterbuch der EthnologieWuppertal 2000, S. 176–179; Phillip Fuchs: »Zur Genese des Netzwerkbegriffs in der Soziologie«, in: Jan Broch, Markus Rassiller und Daniel Scholl (Hg.): Netzwerke der ModerneWürzburg 2007. Während sich der ethnologische Netzwerkbegriff als eine qualitative Beschreibungskategorie durchsetzte, entwickelte sich der sozialanthropologische Netzwerkbegriff spätestens seit den 1970er Jahren durch seine Verbindung mit der mathematischen Graphentheorie zu einem quantitativen Analysemodell. Granovetter: »The Strenth of Weak Ties«, Harrison C. White: Identity and controlPrinceton, NJ 1992.)) Doch beziehen sich die verschiedenen Begriffe immer auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich durch schwache institutionelle Strukturen auszeichnen.  +So erklärten sich die Herausgeber eines 1987 erschienenen Sammelbands über Soziale Netzwerke die Konjunktur des Netzwerk-Konzeptes vor allem mit lebhaften sozialen Utopien, die sich mit dem Konzept verbinden.((Heiner Keupp: »Soziale Netzwerke. Eine Metapher gesellschaftlichen Umbruchs?«, in: Heiner Keupp und Bernd Röhrle (Hg.): Soziale Netzwerke. Frankfurt am Main, New York1987, S. 12.)) Zu diesem Zeitpunkt existieren bereits unterschiedliche Begriffe von sozialen Netzwerken. In der Ethnologie beschreibt er das informelle Beziehungsgeflecht einer Person, in der Sozialanthropologie indessen die quantifizierbare Struktur größerer Gruppen.((Bernhard Streck: »Netzwerk«, in: Bernhard Streck, John Eidson und Katrin Berndt (Hg.): Wörterbuch der EthnologieWuppertal2000, S. 176–179; Phillip Fuchs: »Zur Genese des Netzwerkbegriffs in der Soziologie«, in: Jan Broch, Markus Rassiller und Daniel Scholl (Hg.): Netzwerke der ModerneWürzburg2007. Während sich der ethnologische Netzwerkbegriff als eine qualitative Beschreibungskategorie durchsetzte, entwickelte sich der sozialanthropologische Netzwerkbegriff spätestens seit den 1970er Jahren durch seine Verbindung mit der mathematischen Graphentheorie zu einem quantitativen Analysemodell. Granovetter: »The Strenth of Weak Ties«, Harrison C. White: Identity and controlPrinceton, NJ1992.)) Doch beziehen sich die verschiedenen Begriffe immer auf gesellschaftliche Verhältnisse, die sich durch schwache institutionelle Strukturen auszeichnen.  
-Währenddessen entdecken die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre das Netzwerk der community als Terrain der Selbstbefreiung und des Widerstands gegen die Zumutungen staatlicher Bürokratie und kapitalistischer Rationalität. Netzwerke als Figurationen des Intersubjektiven werden zur legitimen ja genuinen Form demokratischer Praxis erklärt. Als Modus der freien Kooperation autonomer und selbstbestimmter Individuums beruht die Politisierung sozialer Netzwerke auf der Suche nach einer Alternative zu autoritären Organisationsformen in kapitalistischen Lebenswelten.((Kaufmann: »Netzwerk«, S. 183.))+Währenddessen entdecken die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre das Netzwerk der community als Terrain der Selbstbefreiung und des Widerstands gegen die Zumutungen staatlicher Bürokratie und kapitalistischer Rationalität. Netzwerke als Figurationen des Intersubjektiven werden zur legitimen ja genuinen Form demokratischer Praxis erklärt. Als Modus der freien Kooperation autonomer und selbstbestimmter Individuen beruht die Politisierung sozialer Netzwerke auf der Suche nach einer Alternative zu autoritären Organisationsformen in kapitalistischen Lebenswelten.((Kaufmann: »Netzwerk«, S. 183.))
 Wenn sich nun ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung für die gleichen Angelegenheiten interessiert wie die sozialen Bewegungen, so Keupp, nämlich für »die Folgen von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen«((Keupp: »Soziale Netzwerke«, S. 20.)), dann nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem Konzept des Netzwerks implizit auch dessen »utopische Konnotationen« verhandelt. Die Attraktivität des Konzepts zehre demnach nicht nur von seiner methodischen Innovation, sondern – wenn auch unausgesprochen – von dem schillernden Spektrum der Alternativ- und Gegenkultur der 1980er Jahre. Seither verbinde sich mit dem Konzept der Netzwerke die »Last der großen Hoffnungen«.((Ebd., S. 19–20.)) Wenn sich nun ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung für die gleichen Angelegenheiten interessiert wie die sozialen Bewegungen, so Keupp, nämlich für »die Folgen von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen«((Keupp: »Soziale Netzwerke«, S. 20.)), dann nicht zuletzt deshalb, weil sie mit dem Konzept des Netzwerks implizit auch dessen »utopische Konnotationen« verhandelt. Die Attraktivität des Konzepts zehre demnach nicht nur von seiner methodischen Innovation, sondern – wenn auch unausgesprochen – von dem schillernden Spektrum der Alternativ- und Gegenkultur der 1980er Jahre. Seither verbinde sich mit dem Konzept der Netzwerke die »Last der großen Hoffnungen«.((Ebd., S. 19–20.))
-Die Last wird nun mit Anbruch des 21. Jh. nicht geringer, im Gegenteil. Vielmehr wird sie vermehrt von dem, was man in Anlehnung an Keupps Metapher die ›Last der großen Sorgen‹ nennen könnte: Versprach man sich von Netzwerken eine Überwindung der Probleme des Kapitalismus, werden sie nun selber zum Teil der Problems, das sie lösen sollten. Denn Netzwerke bleiben als Organisationsmodus nicht länger für soziale Bewegungen und alternative Lebensstile reserviert. Bald beginnt sich der Kapitalismus netzwerkförmig zu rekonfigurieren.((Joachim Hirsch und Roland Roth: Das neue Gesicht des KapitalismusHamburg 1986.)) +Die Last wird nun mit Anbruch des 21. Jh. nicht geringer, im Gegenteil. Vielmehr wird sie vermehrt von dem, was man in Anlehnung an Keupps Metapher die ›Last der großen Sorgen‹ nennen könnte: Versprach man sich von Netzwerken eine Überwindung der Probleme des Kapitalismus, werden sie nun selber zum Teil des Problems, das sie lösen sollten. Denn Netzwerke bleiben als Organisationsmodus nicht länger für soziale Bewegungen und alternative Lebensstile reserviert. Bald beginnt sich der Kapitalismus netzwerkförmig zu rekonfigurieren.((Joachim Hirsch und Roland Roth: Das neue Gesicht des KapitalismusHamburg1986.)) 
-Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Industrie- und Arbeitssoziologen die Transformation kompakter Betriebe in verteilte Produktionsnetzwerke.((Norbert Altmann et al.: »Ein ›Neuer Rationalisierungstyp‹ - neue Anforderungen an die Industriesoziologie«. In: Soziale Welt Bd. 37 (19862/3.)) Mitte der 1990er Jahre verkündet Manuel Castells den Aufstieg der ›Netzwerkgesellschaft‹.(( Arnold Windeler: UnternehmungsnetzwerkeWiesbaden 2001, Castells: The rise of the network society.)) Dezentralisierte, globale »Produktionsnetzwerke«((Daniel Bieber: »Systemische Rationalisierung und Produktionsnetzwerke«, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hg.): ArBYTEBerlin 1992.)) und das zunehmende Verständnis von sozialen Netzwerken als »soziales Kapital«((Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital«, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Die verborgenen Mechanismen der MachtHamburg 2005, S. 190.)) eröffnen neue Methoden der Wertschöpfung und Kontrolle, vor allem auf Grundlage der sich entfaltenden digitalen Netze. Das wachsende Unbehagen daran artikulierte sich schließlich in drastischer Programmatik zur Jahrhundertwende in Michael Hardts und Antonio Negris Manifest zum Empire – das globale Netzwerke zur primären Produktions- und Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts erhebt, und politischen Widerstand auch nur noch in der Gestalt von Netzwerken erkennt.((Michael Hardt und Antonio Negri: EmpireCambridge, Mass. 2000.)) Damit wird das Netzwerk zu einem Modell gesellschaftlicher Transformation. +Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Industrie- und Arbeitssoziologen die Transformation kompakter Betriebe in verteilte Produktionsnetzwerke.((Norbert Altmann et al.: »Ein ›Neuer Rationalisierungstyp‹ - neue Anforderungen an die Industriesoziologie«. In: Soziale Welt Bd. 3719862/3.)) Mitte der 1990er Jahre verkündet Manuel Castells den Aufstieg der ›Netzwerkgesellschaft‹.((Arnold Windeler: UnternehmungsnetzwerkeWiesbaden, 2001; Castells: The rise of the network society.)) Dezentralisierte, globale »Produktionsnetzwerke«((Daniel Bieber: »Systemische Rationalisierung und Produktionsnetzwerke«, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hg.): ArBYTEBerlin1992.)) und das zunehmende Verständnis von sozialen Netzwerken als »soziales Kapital«((Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital - Kulturelles Kapital - Soziales Kapital«, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Die verborgenen Mechanismen der MachtHamburg2005, S. 190.)) eröffnen neue Methoden der Wertschöpfung und Kontrolle, vor allem auf Grundlage der sich entfaltenden digitalen Netze. Das wachsende Unbehagen daran artikulierte sich schließlich in drastischer Programmatik zur Jahrhundertwende in Michael Hardts und Antonio Negris Manifest zum Empire – das globale Netzwerke zur primären Produktions- und Herrschaftsform des 21. Jahrhunderts erhebt, und politischen Widerstand auch nur noch in der Gestalt von Netzwerken erkennt.((Michael Hardt und Antonio Negri: EmpireCambridge, Mass.2000.)) Damit wird das Netzwerk zu einem Modell gesellschaftlicher Transformation. 
 In dieser Konsequenz konvergiert nun die Politisierung des Netzwerkkonzeptes mit seiner Formalisierung, wie sie durch die mathematischen Modelle neuerer Netzwerktheorien vorangetrieben wird.((Vgl. Barabási: Linked, S. 178; Watts: Six Degrees, S. 303.)) Nirgendwo kommt dies vielleicht deutlicher zum Ausdruck als in dem Vorwort zu einer vom Militär beauftragten Studie des Commitee on Network Science for Future Army Applications des National Research Councils der USA, in dem auch die führenden Netzwerktheoretiker Duncan Watts und Albert-László Barabási vertreten sind. In dem 2005 veröffentlichten Bericht wird die Sache der ›network science‹ zu einer nationalen Angelegenheit ersten Ranges erklärt:  In dieser Konsequenz konvergiert nun die Politisierung des Netzwerkkonzeptes mit seiner Formalisierung, wie sie durch die mathematischen Modelle neuerer Netzwerktheorien vorangetrieben wird.((Vgl. Barabási: Linked, S. 178; Watts: Six Degrees, S. 303.)) Nirgendwo kommt dies vielleicht deutlicher zum Ausdruck als in dem Vorwort zu einer vom Militär beauftragten Studie des Commitee on Network Science for Future Army Applications des National Research Councils der USA, in dem auch die führenden Netzwerktheoretiker Duncan Watts und Albert-László Barabási vertreten sind. In dem 2005 veröffentlichten Bericht wird die Sache der ›network science‹ zu einer nationalen Angelegenheit ersten Ranges erklärt: 
 »First, networks lie at the core of the economic, political, and social fabric of the 21st century. […]. Moreover, social and communication networks lie at the core of both conventional military operations and the war on terrorism. Thus, investment in network science is both strategic and urgent national priority.«((Network science, S. vii.)) »First, networks lie at the core of the economic, political, and social fabric of the 21st century. […]. Moreover, social and communication networks lie at the core of both conventional military operations and the war on terrorism. Thus, investment in network science is both strategic and urgent national priority.«((Network science, S. vii.))
Zeile 104: Zeile 104:
  
 === Sonstige Literatur === === Sonstige Literatur ===
 +
 +
 +  * Friedrich, Alexander: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, 2015.
 +
   * Freyermuth, Gundolf S.: (Art.) Netzwerk, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler; Bernd Stiegler, München 2005, S. 200-209 [enthält kurzen begriffsgeschichtlichen Abschnitt].   * Freyermuth, Gundolf S.: (Art.) Netzwerk, in: Grundbegriffe der Medientheorie, hg. v. Alexander Roesler; Bernd Stiegler, München 2005, S. 200-209 [enthält kurzen begriffsgeschichtlichen Abschnitt].
 +
 +  * Gießmann, Sebastian: Netz: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke,  2014.
  
   * Spies, Marcus: Unsicheres Wissen. Wahrscheinlichkeit, Fuzzy-Logik, neuronale Netze und menschliches Denken. Heidelberg u.a., 1993.   * Spies, Marcus: Unsicheres Wissen. Wahrscheinlichkeit, Fuzzy-Logik, neuronale Netze und menschliches Denken. Heidelberg u.a., 1993.
 +
 +  * Toepfer, G.: Linien, Bäume, Kreise, Netze – und die Gegenstände der Biologie. In: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 12, 2006, S. 79-94.
  
 ---- ----
 [[redaktion:netz|Redaktionsseite]] [[redaktion:netz|Redaktionsseite]]
  
-^ Kategorien: {{tag>Medientheorie Neurowissenschaft Philosophie Wissenschaftstheorie Technikgeschichte Sozialwissenschaften Biologie}}  ^+^ Kategorien: {{tag>Medientheorie Neurowissenschaft Philosophie Wissenschaftstheorie Technikgeschichte Sozialwissenschaften Biologie gg}}  {{tag>Netz Begriff Alexander_Friedrich}}^
begriffe/netz.1368024585.txt.gz · Zuletzt geändert: 2015/12/15 14:34 (Externe Bearbeitung)