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begriffe:entropie

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Entropie

von Vorname Nachname


griech. εντροπία engl. entropy
franz. entropie Gegenbegriffe Negentropie
Wortfeld

Disziplinäre Begriffe


›Negative Entropie‹ als Übergangsmetapher - zwischen Organismus und Automat (Schrödinger, Wiener)

Koautorin Sigrid Weigel

Vor allem in der Phase der Etablierung von Informationstheorie und Kybernetik unterhält der Begriff der Information eine schillernde Vieldeutigkeit, die ständig zwischen semantischer Bedeutung (ein bestimmter Informationsgehalt) und mathematischer Funktion (Information als Quantität oder Instruktion) changiert. Im Begriff der Information interagieren damit genau jene Momente, die bei den alten Schriftsystemen in der Doppelfunktion der Buchstaben als Sprachzeichen und Zahlenwert begegnen. Der Begriff der Information spielte aber eine zentrale Rolle beim Transfer zwischen physikalischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten, der für die ›Erfindung‹ des genetischen Code ausschlaggebend war. So war die Genese der Kybernetik Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Vorhaben verbunden, die Funktionsweise des menschlichen Organismus und der menschlichen Intelligenz mit dem Funktionieren der Maschine gleichzusetzen, wie bereits der Untertitel von Norbert Wieners Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine (On Control and Communication in the Animal and the Machine, 1948) signalisiert. Die Information besetzt darin genau jene Stelle, die den schwierigen Versuch darstellt, die Gesetze des Organismus als Algorithmus anzuschreiben. Dieses Problem soll im folgenden am Beispiel der Genetik erörtert werden, deren jüngste Theorie aus der Schnittstelle von Biowissenschaft und Informationstheorie entstanden ist.

Dadurch daß Lily Kay ihre Historiographie des genetischen Codes Who Wrote the Book of Life (2000) auf die Connections zwischen mathematischer Informationstheorie und Genetik und die Frage einer angemessenen Applikation des Informationsbegriffs in der Biologie hin zugeschnitten hat, unterliegt ihre Darstellung einer fortschrittsteleologischen Tendenz. Da erst mit dem Beginn des Informationsdiskurses, der meist auf Norbert Wieners Cybernetics (1948) und Weaver/Shannons Mathematical Theory of Communication (1949) datiert wird, eine explizite Übernahme von dessen Kategorien in die Biologie erfolgen konnte, erscheint der Diskurs der Genetik bei Kay in einem Epochen-Schema. Darin bilden die 50er Jahre mit der Konstruktion des genetischen Codes und die 60er Jahre mit den verschiedenen Projekten zum coding problems gleichsam eine Sattelzeit, der gegenüber »The Discourse of Molecular Biology Before the Age of Information« als epistemisch unterentwickelte Vorgeschichte erscheinen muß.

Folglich werden die Konzepte dieser vorkybernetischen Zeit entweder als »Protocodes« bezeichnet oder aber extrem marginalisiert, was besonders auffällig ist im Falle von Erwin Schrödingers What is Life (1943), dessen Essay bis dato die erstmalige Formulierung der Idee des genetischen Codes zugeschrieben wurde. Die Zurückweisung von Schrödingers Rolle in der Entwicklung des genetischen Codes erfolgt bei Kay mit dem Argument, daß seine Vorstellungen überholten Konzepten aus dem 19. Jahrhundert angehörten, die bereits seinerzeit »outdated« waren. »His constructs belonged to an older epistemic and cultural epoch« 1) und:

»From a diachronic view, Schrödinger's scriptural representation of heredity belonged to the age-old tradition of textualizing nature by tacitly expressing Western tradition's representations of nature as cipher, though he made no connection to the idea of alphabet. From a synchronic perspective, Schrödinger's semiotic repertoire, including the telegraphic imagery of a Morse-like code, belonged to an older biological discourse of organization (and the philosophical debates of the interwar era), to a different circulation of meaning.« 2)

Nun ist aber gerade dieses Zurückreichen der Konstruktion des genetischen Codes in ältere Epistemologien interessant, nicht zuletzt deshalb, weil jüngst - nach der Phase des Code-Knackens und seit dem Beginn des Human Genom Projects unter dem Titel »Entzifferung des Buchs des Lebens« - ältere Bestände des Textparadigmas zurückgekehrt sind, mit denen die informationstheoretischen Konzepte überlagert werden. Zudem waren diese ›älteren‹ Schriftkonzepte stets mit im Spiel, auch in der Hochphase der Reformulierung biologischer Gesetzmäßigkeiten in Begriffen der Informationstheorie. Gerade solche Texte aber, die für die ›unreinen‹ Ursprünge eines Modells stehen, sind besonders aufschlußreich für die Untersuchung jener Momente des »theoretisch Unerfüllbaren« (Blumenberg), die durch eine Metaphernsprache besetzt werden. Um derartige Urszenen als Konstellationen untersuchen zu können, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien, hier die Analyse molekularbiologischer Prozesse und deren Notierung verhandelt werden, gilt es, vom Epochenmodell Abschied zu nehmen. Im Diskurs über die »Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine«, über die Vergleichbarkeit von Organismen und Automaten, die das Leitmotiv der Kybernetik darstellt und die Entwicklung des genetischen Codes begleitet hat, spielt die Formel, Information sei negative Entropie, eine zentrale Rolle. Wird diese Formel in einschlägigen Lehrbüchern als gesichertes Wissen tradiert, so soll ihre Einführung hier als Schauplatz der Etablierung einer neuen Nomenklatur betrachtet werden. Die in dieser Formel eingeschlossenen Transformationsversuche zwischen Physik und Biologie und deren Lösung in Gestalt des Informationsbegriffs können nämlich Probleme erhellen, die sich bis heute als innere Spannung des alphanumerischen Codes (Flusser 1996) in der Notation der Genetik fortschreiben. Das Zusammenspiel von alphabetischen und numerischen Notationen ist dabei Symptom des komplexen Versuchs, Organisches in Algorithmen bzw. eine naturwissenschaftliche Fachsprache zu übersetzen, - als spezifisches Problem, das in den Metaphern der genetischen Theorie eingeschlossen ist.

Gerade in Erwin Schrödingers Text What is Life? sind noch jene Probleme lesbar, die sich im Begriff genetischer Information verbergen. Sein Versuch, sich mit physikalischen Theorien der Frage nach dem Leben zu nähern, verwendet den Informationsbegriff gerade nicht - ›noch nichts wie es zumeist heißt, da sein Text gleichsam am Vorabend der mathematischen Informationstheorie formuliert wurde, nur wenige Jahre, bevor sich mit Wieners und C.E. Shannons Publikationen 1948 ein Diskurs der Kybernetik etablierte und auch Jahre, bevor John von Neumann in seiner General and Logical Tbeory of Automata (1951) die Funktionsweise lebender Organismen, vor allem des Nervensystems, mit einem künstlichen Automaten bzw. dem Computer verglich. Eine vergleichende Lektüre von Schrödinger und Wiener ist geeignet, um die Transformation einer Metapher in einen vermeintlich gesicherten Begriff genauer zu studieren. Beide Autoren haben nämlich mit der Rede von der ›negativen Entropie‹ den Versuch unternommen, Analogien zwischen Materie und Organismus, zwischen Maschine und Lebewesen, zwischen geschlossenen und offenen (durch Metabolismus mit der Umwelt kommunizierenden) Systemen herzustellen - wenn auch in je umgekehrter Perspektive.

Schrödingers Bezugnahme auf die negative Entropie ebenso wie sein so folgenreicher Einfall, das Gen im Bild eines Miniaturcodes nach dem Vorbild des Morsecodes zu konzipieren, gründen im Versuch, die Gesetze der Physik bzw. der statistischen Mechanik auf die Biologie zu übertragen, zugespitzt in der Frage, auf welche Weise es lebende Organismen vermögen, sich dem Entropiesatz zu entziehen, d.h. der Tendenz der Materie zu Unordnung oder Wärmetod zu entkommen. Um die - dem Wärmetod entgegengesetzte - Tendenz des Organismus zu Struktur, Ordnung oder Organisation zu erklären, griff schon Schrödinger im sechsten Kapitel von What is Life? auf das Negativ des Wärmetods, auf den Begriff der negativen Entropie bzw. ›Negentropie‹ zurück. Er verwandte damit ein Konzept, das in den Verhandlungen zwischen Thermodynamik, statistischer Mechanik und Wahrscheinlichkeitstheorie eine Schlüsselstellung einnehmen sollte, weil sich in ihm die Frage nach der komplexen Beziehung zwischen Ordnung, Information und Entropie verdichtet. Um 1950 wird der Versuch, diese Beziehung explizit zu klären, viele Wissenschaftler beschäftigen, nicht zuletzt Norbert Wiener, der in Cybernetics (1948) als Informationsgehalt den Negativwert jener Größe bezeichnet, »die in ähnlichen Situationen üblicherweise als Entropie definiert wird« 3), und Leon Brillouin, dessen Identifizierung von ›Negentropie‹ und ›Information‹ (Brillouin 1953) eine wichtige Brücke zum anbrechenden Informationszeitalter in den Life Sciences spielen sollte.

In Schrödingers etliche Jahre früher unternommenem Versuch zu einem Brückenschlag zwischen Physik und Biologie wird die Einführung der negativen Entropie noch als »Kunstgriff« bezeichnet. Doch gelingt es ihm mit diesem Kunstgriff nicht, die zur Entropie umgekehrte Tendenz der Organismen - zunehmende Ordnung anstatt wachsender Unordnung bzw. Entropie -, die er in eine Gleichung für negative Entropie überträgt, als Vorlage für einen Algorithmus der Organismen zu nutzen:

»Wie würden wir die wunderbare Fähigkeit eines lebenden Organismus, den Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht (Tod) zu verzögern, in der Ausdrucksweise der statistischen Theorie darstellen? […] Wenn D ein Maß der Unordnung ist, so kann der reziproke Wert VD als direktes Maß der Ordnung betrachtet werden. Da der Logarithmus von VD minus Logarithmus D ist, können wird die Bolzmannsche Gleichung folgendermaßen schreiben:

- (Entropie) = k log (VD). Damit läßt sich der unbeholfene Ausdruck ›negative Entropie‹ durch einen besseren ersetzen: die Entropie ist in Verbindung mit dem negativen Vorzeichen selbst ein Ordnungsmaß. Der Kunstgriff, mittels dessen sich ein Organismus stationär auf einer ziemlich hohen Ordnungsstufe (einer ziemlich tiefen Entropiestufe) hält, besteht in Wirklichkeit aus einem fortwährenden ›Aufsaugen‹ von Ordnung aus seiner Umwelt.« 4)

Da seine Bemerkungen über negative Entropie bei Kollegen auf Widerstand gestoßen seien, fügt er an, daß der Term auch durch den der »freien Energie« ersetzbar sei. Allerdings führt ihn das Experiment, die Gleichung für Entropie mit einem negativen Vorzeichen zu versehen, um eine Gleichung für die Ordnung von Organismen zu gewinnen, zu der Erkenntnis, daß die Struktur der lebenden Materie »sich nicht auf die gewöhnlichen physikalischen Gesetze zurückführen läßt.« 5) Denn, so Schrödinger: »In der Biologie liegen die Dinge ganz anders.« 6) Da die Geordnetheit des Lebens anders erklärt werden müsse, nimmt sein Text, nach dem Versuch zur Analogisierung von Energie und Ordnung, im anschließenden Kapitel die Spur der Metaphorik und auch poetischer Umschreibungsversuche wieder auf, wechselt zum Vergleich zwischen Uhrwerk und Organismus, um schließlich mit einer Meistertrope zu enden, indem er die Zahnräder eines Organismus als feinstes Meisterwerk bezeichnet, »das jemals nach den Leitprinzipien von Gottes Quantenmechanik vollendet wurde«. 7) Im Grunde genommen geht es in Schrödingers Untersuchungsanordnung um den alten und wiederholten Versuch, jene Mechanismen zu verstehen und zu erklären, nach denen Organismen ihre Form, ihre Gestalt oder Organisation ausbilden, erhalten, weiterentwickeln und vererben, der hier bereits im Zusammenhang mit dem Auftritt der Epigenese am Ende des 18. Jahrhunderts thematisiert wurde 8). Es betrifft ein Leitmotiv der Wissenschaft, das sich von Aristoteles' »unbewegtem Bewegen über die vis essentialis von Wolff oder den nisus formativis Blumenbachs, Lamarcks »inneren Entwicklungstriebs Maupertius' ›Kristallisation‹ und die molekularbiologische »Organisation der Zelle« bis zur genetischen Information verfolgen läßt. Es geht um die Frage, was einen Organismus zu dem disponiert, was er einmal werden soll, und was dafür verantwortlich ist, daß er sich dazu ausbildet oder eben nicht. Theoretisch formuliert geht es um die Frage, was einen Organismus im Status der Latenz oder der Virtualität ausmacht und auf welche Weise er seine manifeste oder leibhaftige Gestalt gewinnt. Von Erwin Schrödinger werden im Zuge der Erörterung dieser Frage sehr verschiedene Bilder erprobt: neben dem Uhrwerk die negative Entropie, das Morsealphabet und der Code - all dies Versuche, die nicht vollständig zu genügen scheinen. So wird auch der Code von ihm als zu eng erachtet, denn: »Die Chromosomstrukturen tragen gleichzeitig dazu bei, die Entwicklung, welche sie ahnen lassen, hervorzubringen. Sie sind zugleich Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters.« 9) Das Ungenügen an einer Metapher bringt in Schrödingers Text immer wieder neue Bilder hervor.

All diese von ihm reflektierten Schwierigkeiten scheinen dann in Kybernetik und Informationstheorie gelöst zu sein. So wird von Norbert Wiener negative Entropie kurz und bündig mit Information gleichgesetzt, eine Identifikation, die er als eine der Grundlagen seiner Kybernetik (1948) formuliert: »Wie der Informationsgehalt eines Systems ein Maß für den Grad der Ordnung ist, ist die Entropie eines Systems ein Maß für den Grad an Unordnung; und das eine ist einfach das Negative des anderen.« (Wiener 1963, S. 331) Dieser Satz ist die Möglichkeitsbedingung, um im nachfolgenden Buch The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society (1950) dann - über eine Engführung der Konzepte von Entropie und Information - die Reichweite des Vergleichs zwischen Automaten und Organismen, zwischen Maschine und Mensch, zu diskutieren. Seine Diagnose läuft darauf hinaus, daß dem Status des Menschen als Information lediglich technische Grenzen gesetzt seien. Das Gedankenexperiment, das zu diesem Ergebnis führt, betrifft die Frage, ob ein lebender Körper auf dem selben Wege wie ein Telegramm übermittelt werden könne:

»Wenn eine Zelle sich in zwei teilt, oder wenn eines der Gene, das unser körperliches und geistiges Erbe trägt, bei der Vorbereitung zur Reduktionsteilung einer Keimzelle gespalten wird, ist dies eine Trennung von Materie, bedingt von der Kraft eines dem lebenden Gewebe innewohnenden Schemas, sich selber zu verdoppeln. Da dies so ist, gibt es keine fundamentale absolute Grenze zwischen den Übermittlungstypen, die wir gebrauchen können, um ein Telegramm von Land zu Land zu senden, und den Übermittlungstypen, die für einen lebenden Organismus wie den Menschen zum mindesten theoretisch möglich sind.« 10)

Die einzige Barriere besteht in den dafür notwendigen Schritten, das Gewebe zunächst zu zerstören und dann wieder aufzubauen.

»Mit anderen Worten: Die Tatsache, daß wir das Schema eines Menschen nicht von einem Ort zu einem anderen telegrafieren können, liegt wahrscheinlich an technischen Schwierigkeiten und insbesondere an der Schwierigkeit, einen Organismus während solch einer umfassenden Rekonstruktion am Leben zu erhalten. Sie liegt nicht an der Unmöglichkeit der Idee.« (S. 90)

Stößt in Wieners Gedankenexperiment die Übermittlung des Menschen wegen dessen leiblicher Konstitution an eine Grenze, so ist bemerkenswert, daß in dieser informationstheoretischen Reformulierung des Organismus der tradierte Dualismus von Geist und Körper wiederkehrt, nur daß der Begriff der Information nun an die Stelle des Geistes getreten ist. Damit wäre die Information in einer Kybernetik der Organismen nichts anderes als Ersatz und Nachfolger des ›Geistes‹. Das heißt aber, daß während die Kulturwissenschaften, im Zuge einer Abwendung von ihren metaphysischen Ursprüngen, mit der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften befaßt waren, umgekehrt der Geist, verkleidet als Information, Einzug in die Biowissenschaften gehalten hat - und das, obwohl doch das Ziel der modernen Molekularbiologie gerade darin bestand, »die Algorithmen der lebenden Welt« zu bestimmen, wie Francois Jacob 1970 formuliert hat (Jacob 1972, S. 319). Seit der Etablierung der Kybernetik ist Wieners Satz, Information sei negative Entropie, als Begriff kanonisiert. Während bei Schrödinger die negative Entropie genau jene Stelle markiert, an der sich die Differenz zwischen der Errechenbarkeit der Materie und der Organisation des Lebens auftut, haben Substitutionen mit Hilfe der Begriffe Negentropie und Information alle Schwierigkeiten bei der Analogisierung von Mensch und Maschine überbrückt und verdeckt: überbrückt, insofern sich dennoch damit arbeiten ließ, verdeckt, weil das Ungeklärte darin vergessen scheint. Und als Deckbegriff hat er nicht wenige Mißverständnisse in den schwierigen Verhandlungen über die Gentechnologie nach sich gezogen. An deren Fluchtpunkt steht die Bezeichnung des menschlichen Genoms als genetische bzw. Erbinformation und als Buch des Lebens, in der Information als Datenansammlung oder Instruktion mit Wissen oder Verstehen gleichgesetzt wird, - und zwar über eine folgenreiche Verwechslung von kybernetischem und semantischem Informationsbegriff.

Insofern markiert der Begriff der Information wissenschaftsgeschichtlich genau jene Schwelle, an der die Heterogenität zweier Wissensregister als Spannung zwischen Zahl und Buchstabe sichtbar wird. Denn die »Information« des »genetischen Codes« wird in Buchstaben notiert. In dem Text Schrödingers, der noch nicht zur Brücke - oder Krücke - des Informationsbegriffs greift, stehen an dessen Stelle zwei Modelle, einerseits die Idee eines Codes, andererseits die Metapher des Uhrwerks:

»Nun denke ich, bedarf es nicht mehr vieler Worte um aufzuzeigen, worin Uhrwerk und Organismus einander ähnlich sind. Die Ähnlichkeit beruht ganz einfach darin, daß der Organismus ebenfalls in einem festen Körper verankert ist - dem aperiodischen Kristall, der die Erbsubstanz bildet, und der Unordnung aus Wärmebewegung weitgehend entzogen ist.« 11)

Um die Ordnungsgesetze dieses aperiodischen Kristalls, genannt Gen, begreifen zu können, entwickelt Schrödinger in demselben Vortrag die Idee eines Miniaturcodes, den er über das Modell des Morsecodes (Zeichen für Buchstaben) gewinnt. Seine Reverenz an die bei solchen Versuchen mitschwingenden tradierten Bedeutungen bringt er in seiner schon zitierten Schlußformulierung von »Gottes Quantenmechanik« zum Ausdruck.

Bereits durch die Plazierung seiner Studie zur Metapherngeschichte der Genetik in dem Buch Zur Lesbarkeit der Welt hat Hans Blumenberg die Wissenschaftsgeschichte des genetischen Codes in der Bedeutungsgeschichte vom Buch der Welt und der Natur verortet, aus deren Tradition die Rede vom Rätsel und der Verschlüsselung, von Entzifferung und Lesbarkeit stammen. Durch solche Formeln reichen religiöse Konnotationen bis in das Projekt zur Entzifferung des menschlichen Genoms als »Buch des Lebens« hinein, und das, obwohl zum Zeitpunkt von Blumenbergs Untersuchung von diesem Projekt noch nicht die Rede war. Tatsächlich ist es gegenwärtig vor allem die Verwechslung der Begriffe von Entzifferung und Decodierung, über die die ubiquitäre Vermischung informationstheoretischer mit semantischen oder hermeneutischen Vorstellungen im Genetikdiskurs funktioniert. Der Code bezeichnet, wie Kay zu Recht betont hat, eigentlich keine Kategorie eines Sprachsystems, das über syntaktische und semantische Regeln funktioniert, sondern lediglich den Schlüssel für die Transformation zwischen zwei Systemen - im Falle des genetischen Codes die Prozeduren, mit denen die Nukleinsäuresequenzen der DNA über die Messenger-RNA und die Ribosomen in die Aminosäuren der Proteine transformiert werden. Doch spielt der Begriff des Codes in Kommunikationstheorie und Sprachgeschichte eine so bedeutsame Rolle, daß er schwerlich für eine »reine« Verwendung im Kontext einer mathematischen Informationstheorie reserviert werden kann, in der es allein um den bedeutungslosen Begriff einer Schaltung oder einer Instruktion geht, die zwischen Alternativen entscheidet.

In der Genese der Modelle Genom und genetischer Code sind es gerade solche Terme wie Botschaft, Informationsgehalt, Code und Übersetzung, über die die verschiedenen experimentellen Praktiken und theoretischen Hypothesenbildungen verknüpft sind. Diese umfassen: Verfahren der Sichtbarmachung der Moleküle wie Röntgenbeugung und Kristallographie und den Modellbau zur Rekonstruktion der Molekularstruktur der DNS, eine Art handwerklicher Hypothesenbildung, außerdem graphische, alphabetische und mathematische Spekulationen zur Art und Weise der Replikation der doppelsträngigen DNA einerseits und zur Relation zwischen den vier Nukleinsäuren bzw. den 64 aus ihnen zu bildenden dreistelligen Sequenzen und den 20 Aminosäuren andererseits, ferner die Entwicklung ›molekularer tools‹ wie etwa der Enzymschere als Verfahren eines gentechnologischen Umgangs mit den Genen, der wiederum als »UmSchreibung des Lebens« (Rheinberger 2001) bezeichnet wird, sowie die ›Entzifferung‹ des Genoms mit Hilfe von elektronischen Großrechnern. Dabei geht diese Entwicklung nicht einfach vom Handwerklichen zur Elektronik, sondern Berechnen, experimentelle Operationen und theoretische Hypothesenbildung sind immer schon verbunden, und zwar über den metaphorischen Diskurs.


Material

Primärquellen

1865Rudolf Clausius, Abhandlung über die mechanische Wärmetheorie, Braunschweig, 1864, Bd. II, S. 44, stellt folgende beiden Sätze auf: 1) Die Energie der Welt ist konstant, 2) die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu. Über den Begriff der »Entropie« vgl. ebenda S. 34ff. Clausius führt das Begriffswort Entropie zur Bezeichnung für den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein. 12)
1886Ludwig Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie [1886]. In: Ders.: Populäre Schriften, Leipzig 1905, S. 25-50.: Boltzmann nennt Clausius' Vision, daß die Entropie der Welt einem Maximum zustrebt, 'Wärmetod'. Vgl. S. 33.
1929Szilárd, Léo: Über die Entropieverminderung in einem thermodynamischen System bei Eingriffen intelligenter Wesen. In: Zeitschrift für Physik 53 (1929), S. 840-856.

Sekundärliteratur

Begriffsgeschichtliche Arbeiten

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  • Neswald, Elizabeth R.: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Faszinationsgeschichte der Entropie, 1850-1915 (Berliner Kulturwissenschaft, 2), Freiburg, Berlin, Wien 2006.
    • Rezension: Kai Marcel Sicks, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 Volltext.

Siehe auch:

  • Hoyer, U.: (Art.) Wärmetod, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter. Bd. 12, Basel/Stuttgart, 2005, Sp. 325 - 327.

Sonstige Literatur

  • Bartels, Andreas: Bedeutung und Begriffsgeschichte. Die Erzeugung wissenschaftlichen Verstehens. Paderborn: Schöningh 1994. [Kap. 3: Entropie, S. 135-219.]
  • Ders.: Zur Bedeutung und Begriffsgeschichte der Entropie. In: Praxis der Naturwissenschaften - Physik, Themenheft "Begriffs- und Theorienbildung", 1 (1995), S. 27-32.
  • Brush, Stephen G.: The Temperature of History. Phases of Science and Culture in the Nineteenth Century, New York 1978. Inhaltsangabe
  • Clark, Bruce: Energy Forms. Allegory and Science in the Era of Classical Thermodynamics, Michigan 2001.
  • Diamond, M.J.T.: Rez. zu: D. Bagley, Naturalistic Fiction, The Entropic Vision. In: French Review, Vol. 65, no. 5, pp. 819-820 1992.
  • Denbigh, K. G.: Note on Entropy, Disorder and Disorganization. The British Journal for the Philosophy of Science 40, 1989, S. 323-332.
  • Ebeling, Werner; Jan Freund; Frank Schweitzer: Komplexe Strukturen: Entropie und Information. Stuttgart u.a., 1998.
  • Ebeling, Werner; Frank Schweitzer: Zwischen Ordnung und Chaos. Komplexität und Ästhetik aus physikalischer Sicht. In: Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen, hg.v.d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Frühjahr 2002, H. 9, S. 46-49.
  • Freese, Peter: From Apocalypse to Entropy and Beyond. The Second Law of Thermodynamics in Post-War American Fiction, Essen, 1997.
  • Lewicky, Zbigniew: The bang and the whimper, apocalypse and entropy in American literature, Westport CT, 1984.
  • Grimminger, Rolf: Offenbarung und Leere. Nietzsche, Freud, Paul de Man. In: Merkur, 45 (1991), S. 387-402.
  • Hiebert, Erwin: The Uses and Abuses of Thermodynamics in Religion, in: Daedalus 95 (1966), S. 1046-1080.
  • Jammer, Max: (Art.) Entropy. In: Dictionary of the history of ideas. Hrsg. v. Philip P. Wiener. Bd. 2, New York, 1973, S. 112-120.
  • Kassung, Christian: Entropiegeschichten. Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" im Diskurs der modernen Physik. München (= Musil-Studien) 2000.
  • Klein, Martin J.: Order, Organisation and Entropy. The British Journal for the Philosophy of Science IV, 1953, S. 158-160. Vorschau
  • Kümmel, Albert: Möglichkeitsdenken. Navigation im fraktalen Raum. In: Weimarer Beiträgel, Bd. 41, S. 526-546 1995.
  • Lützeler, Paul Michael: Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.
  • Myers, Greg: Ninetheenth Century Popularizations of Thermodynamics and the Rhetoric of Social Prophecy, in: Victorian Studies 29 (1986), 35-66.
  • Osietzki, Maria: "Energie" und "Information" – Denkmodelle einer thermodynamischen Konstruktion des Wissens. In: Wissensgesellschaft. Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag. Hg. von Heike Franz, Werner Kogge, Torgen Möller, Torsten Wilholt. Tagungsband des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung. Bielefeld, 2001, S. 143–156. Volltext
  • Pawalkat, Horst: Die soziologische Entropie oder der unvermeidbare Weg ins Chaos, Frankfurt a.M., 1992.
  • Popper, Karl R.: Irreversibility; or, Entropy since 1905. The British Journal for the Philosophy of Science VIII, 1957, S. 151-155.Vorschau
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  • Steller, Erwin: Computer und Kunst. Programmierte Gestade, Wurzeln und Tendenzen neuer Ästhetiken. Mannheim u.a. 1992.
  • Wetzel, Michael; Herta Wolf; (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München 1994.

Redaktion

1)
Kay 2000, S.4.
2)
S. 62, dt. Kay 2001, S. 97.
3)
Wiener 1963, S. 105.
4)
Schrödinger 1987, S. 129, Hvh. S.W.
5)
Ebd. S. 133.
6)
S. 137.
7)
Ebd., S. 147.
8)
Ebd., S. 130ff.
9)
Ebd., S. 57.
10)
Wiener 1958, S. 89.
11)
Schrödinger 1999, S. 146.
12)
Clausius, Hauptgleichungen der mechanischen Wärmetheorie, S. 390 ff, zitiert nach Neswald, Thermodynamik, S. 171
begriffe/entropie.1360505474.txt.gz · Zuletzt geändert: 2015/12/15 14:30 (Externe Bearbeitung)