begriffe:energie
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Wenn der Begriff Anlass zu zahlreichen weltanschaulichen Reflexionen bot, dann nicht zuletzt deshalb, weil die ‚Entdeckung‘ dieser Tatsache selbst auf das Engste den ökonomischen, | Wenn der Begriff Anlass zu zahlreichen weltanschaulichen Reflexionen bot, dann nicht zuletzt deshalb, weil die ‚Entdeckung‘ dieser Tatsache selbst auf das Engste den ökonomischen, | ||
Die Situierung des Begriffs in einem weiten Netz von Bedingungen kann vielleicht erklären, warum der Begriff nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander entdeckt wurde (v. a. von Julius Robert Mayer, James Prescott Joule und Hermann von Helmholtz). Thomas Kuhn, der im Satz der Energieerhaltung das eindrucksvollste Beispiel einer gleichzeitigen Entdeckung sieht, benennt zwischen 1842 und 1847 zwölf Forscher, die wesentliche Momente des Begriffs gefunden haben.((Thomas S. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (1959), in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, | Die Situierung des Begriffs in einem weiten Netz von Bedingungen kann vielleicht erklären, warum der Begriff nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander entdeckt wurde (v. a. von Julius Robert Mayer, James Prescott Joule und Hermann von Helmholtz). Thomas Kuhn, der im Satz der Energieerhaltung das eindrucksvollste Beispiel einer gleichzeitigen Entdeckung sieht, benennt zwischen 1842 und 1847 zwölf Forscher, die wesentliche Momente des Begriffs gefunden haben.((Thomas S. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (1959), in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, | ||
- | Die Geschichte des Energiebegriffs ist bereits Teil des Energiediskurses um 1900: im (nationalistisch gefärbten) Streit um die Priorität seiner Entdeckung rekonstruierten schon zeitgenössisch die Protagonisten dessen Geschichte, bedeutende Physiker (von Helmholtz über Wilhelm Ostwald bis Werner Heisenberg, Heinrich Hertz und Max Planck) vergewisserten sich der Bedeutung des Satzes über seine Genese. Seit Ernst Mach ist das Äquivalenzgesetz auch ein Paradigma, an dem Wissenschaftshistoriker ihre Methoden erproben.((Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (1872), Zweiter unveränderter Abdruck, Leipzig 1909. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (s. Anm. 1). Yehuda Elkana, The Discovery of the Conservation of Energy. Havard University Press 1974.)) Während (durchaus instruktive) lexikalische Begriffsgeschichten den Begriff eher ressortmäßig untersuchten, | + | Die Geschichte des Energiebegriffs ist bereits Teil des Energiediskurses um 1900: im (nationalistisch gefärbten) Streit um die Priorität seiner Entdeckung rekonstruierten schon zeitgenössisch die Protagonisten dessen Geschichte, bedeutende Physiker (von Helmholtz über Wilhelm Ostwald bis Werner Heisenberg, Heinrich Hertz und Max Planck) vergewisserten sich der Bedeutung des Satzes über seine Genese. Seit Ernst Mach ist das Äquivalenzgesetz auch ein Paradigma, an dem Wissenschaftshistoriker ihre Methoden erproben.((Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (1872), Zweiter unveränderter Abdruck, Leipzig 1909. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung (s. Anm. 1). Yehuda Elkana, The Discovery of the Conservation of Energy. Havard University Press 1974.)) Während (durchaus instruktive) lexikalische Begriffsgeschichten den Begriff eher ressortmäßig untersuchten, |
===I. Erhaltung und Umwandlung vor dem Energiebegriff=== | ===I. Erhaltung und Umwandlung vor dem Energiebegriff=== | ||
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Sowohl Mayer wie auch Helmholtz fanden das Gesetz nicht in der Physik, sondern über den Umweg der Physiologie. Der schwäbische Oberamtswundrat (und physikalische Autodidakt) Mayer hat selbst seine Beobachtungen als Schiffsarzt als Ausgangspunkt seines Nachdenkens über den Erhaltungssatz benannt. Er stellte im wärmeren Klima den geringen Unterschied in der Farbe des arteriellen und venösen Blutes bei erkrankten Matrosen fest und erklärte ihn durch einen geringeren Sauerstoffverbrauch des Organismus im Stoffumsatz. Wie Mayer war auch Helmholtz lange Jahre Physiologe und Mediziner, genauer Chirurg, bevor er 1871 eine Physikprofessur in Berlin erhielt. Wenn Helmholtz (wie auch Mayer) über Fäulnis und Gärung, den Stoffverbrauch bei Muskelaktionen und physiologische Wärmeerscheinungen arbeiteten, so richteten sich ihre Überlegungen gegen die Theorie der Lebenskraft (vis vitalis). Helmholtz gehörte zu denjenigen Schülern Johannes von Müllers, die – mit Emil du Bois Reymond an der Spitze – dagegen einen physikalisch-chemischen Reduktionismus geltend machten. Auch wenn die ‚Lebenskraft‘kaum so explizit und emphatisch gebraucht wurde, wie du Bois-Reymond unterstellte, | Sowohl Mayer wie auch Helmholtz fanden das Gesetz nicht in der Physik, sondern über den Umweg der Physiologie. Der schwäbische Oberamtswundrat (und physikalische Autodidakt) Mayer hat selbst seine Beobachtungen als Schiffsarzt als Ausgangspunkt seines Nachdenkens über den Erhaltungssatz benannt. Er stellte im wärmeren Klima den geringen Unterschied in der Farbe des arteriellen und venösen Blutes bei erkrankten Matrosen fest und erklärte ihn durch einen geringeren Sauerstoffverbrauch des Organismus im Stoffumsatz. Wie Mayer war auch Helmholtz lange Jahre Physiologe und Mediziner, genauer Chirurg, bevor er 1871 eine Physikprofessur in Berlin erhielt. Wenn Helmholtz (wie auch Mayer) über Fäulnis und Gärung, den Stoffverbrauch bei Muskelaktionen und physiologische Wärmeerscheinungen arbeiteten, so richteten sich ihre Überlegungen gegen die Theorie der Lebenskraft (vis vitalis). Helmholtz gehörte zu denjenigen Schülern Johannes von Müllers, die – mit Emil du Bois Reymond an der Spitze – dagegen einen physikalisch-chemischen Reduktionismus geltend machten. Auch wenn die ‚Lebenskraft‘kaum so explizit und emphatisch gebraucht wurde, wie du Bois-Reymond unterstellte, | ||
Das entscheidende ‚Denkhindernis‘ auf dem Weg zum Energieerhaltungssatz war aber die Theorie eines unwägbaren materiellen Wärmestoffs, | Das entscheidende ‚Denkhindernis‘ auf dem Weg zum Energieerhaltungssatz war aber die Theorie eines unwägbaren materiellen Wärmestoffs, | ||
- | In der physikalischen Gemeinde blieb Mayer die wissenschaftliche Anerkennung wegen seiner zum Teil philosophisch-deduktiv dargelegten Entdeckung zunächst versagt. Helmholtz gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der 1847 als erster das „Princip von der Erhaltung der Kraft“ mathematisch analysierte und seine Funktion in der Physik begründete: | + | In der physikalischen Gemeinde blieb Mayer die wissenschaftliche Anerkennung wegen seiner zum Teil philosophisch-deduktiv dargelegten Entdeckung zunächst versagt. Helmholtz gilt in der Wissenschaftsgeschichte als derjenige, der 1847 als erster das „Princip von der Erhaltung der Kraft“ mathematisch analysierte und seine Funktion in der Physik begründete: |
===III. Mechanische Arbeit und kapitalistische Ökonomie=== | ===III. Mechanische Arbeit und kapitalistische Ökonomie=== | ||
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Wie stark die Aufstellung des Energieerhaltungssatzes mit dem emporstrebenden Kapitalismus zusammenhängt, | Wie stark die Aufstellung des Energieerhaltungssatzes mit dem emporstrebenden Kapitalismus zusammenhängt, | ||
Schon Lavoisier war im Zuge seiner Untersuchungen zum Sauerstoffverbrauch auf einen abstrakten Begriff von Arbeit gestoßen: "Wir können z.B. bestimmen, welches Gewicht gehoben werden muß, um der Arbeit zu entsprechen, | Schon Lavoisier war im Zuge seiner Untersuchungen zum Sauerstoffverbrauch auf einen abstrakten Begriff von Arbeit gestoßen: "Wir können z.B. bestimmen, welches Gewicht gehoben werden muß, um der Arbeit zu entsprechen, | ||
- | Während Helmholtz in seiner Abhandlung Über die Erhaltung der Kraft von 1847 weitgehend innerphysikalisch argumentiert, | + | Während Helmholtz in seiner Abhandlung Über die Erhaltung der Kraft von 1847 weitgehend innerphysikalisch argumentiert, |
Auch Marx‘ Arbeits- und Wertbegriff weist Analogien zum allgemeinen Energiebegriff auf, insofern auch er eine Arbeit unterstellt, | Auch Marx‘ Arbeits- und Wertbegriff weist Analogien zum allgemeinen Energiebegriff auf, insofern auch er eine Arbeit unterstellt, | ||
- | Wenn Marx von ‚menschlicher Arbeit‘ spricht, dann meint auch er gewöhnlich maschinelle Arbeit und unterscheidet davon die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Marx übernimmt die physikalische Quantifizierung des Arbeitsbegriffs (und zitiert einen englischen Popularisator des Energiebegriffs, | + | Wenn Marx von ‚menschlicher Arbeit‘ spricht, dann meint auch er gewöhnlich maschinelle Arbeit und unterscheidet davon die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Marx übernimmt die physikalische Quantifizierung des Arbeitsbegriffs (und zitiert einen englischen Popularisator des Energiebegriffs, |
Der Energiebegriff wirkte über die im gleichen Zuge entstehende Arbeitsphysiologie auf die Messung und Optimierung der menschlichen Arbeitskraft zurück. Bereits Du Bois-Reymond machte den Energieerhaltungssatz zur Grundlage einer exakt messenden Physiologie. In den 1890er Jahren wies der Physiologe und Hygieniker Max Rubner die Gültigkeit des Erhaltungssatzes für Lebewesen nach.((Max Rubner, Die Quelle der thierischen Wärme, in: Zeitschrift für Biologie 30 (1894), S. 73-142. Vgl. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und menschlicher Motor (Anm. 12).)) Er betrachtete nicht mehr nur Teilsysteme des Organismus, sondern die Umwandlungsprozesse des Gesamtorganismus‘. Rubner leitet einen Paradigmenwechsel in der Physiologie ein, die er vom Stoffwechsel auf eine energetische Basis umstellen wollte. Die Kraftumwandlung habe nicht die chemischen Qualitäten der Ernährungsstoffe zu untersuchen, | Der Energiebegriff wirkte über die im gleichen Zuge entstehende Arbeitsphysiologie auf die Messung und Optimierung der menschlichen Arbeitskraft zurück. Bereits Du Bois-Reymond machte den Energieerhaltungssatz zur Grundlage einer exakt messenden Physiologie. In den 1890er Jahren wies der Physiologe und Hygieniker Max Rubner die Gültigkeit des Erhaltungssatzes für Lebewesen nach.((Max Rubner, Die Quelle der thierischen Wärme, in: Zeitschrift für Biologie 30 (1894), S. 73-142. Vgl. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und menschlicher Motor (Anm. 12).)) Er betrachtete nicht mehr nur Teilsysteme des Organismus, sondern die Umwandlungsprozesse des Gesamtorganismus‘. Rubner leitet einen Paradigmenwechsel in der Physiologie ein, die er vom Stoffwechsel auf eine energetische Basis umstellen wollte. Die Kraftumwandlung habe nicht die chemischen Qualitäten der Ernährungsstoffe zu untersuchen, | ||
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===VI. Energetik: Streitsache zwischen Natur- und Kultur- und Sozialwissenschaft=== | ===VI. Energetik: Streitsache zwischen Natur- und Kultur- und Sozialwissenschaft=== | ||
In Helmholtz‘ populären Vorträgen diente der Energieerhaltungssatz zur Begründung der sich gerade etablierenden methodischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Zu einem diskursiven Grundbegriff wurde Energie aber nicht zuletzt deswegen, weil die Grenzen seiner Geltung hochumstritten waren. Insbesondere wird am Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, inwieweit der Begriff zur Erklärung von Phänomenen jenseits der Natur, nämlich der Kultur und Gesellschaft geeignet ist.\\ | In Helmholtz‘ populären Vorträgen diente der Energieerhaltungssatz zur Begründung der sich gerade etablierenden methodischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Zu einem diskursiven Grundbegriff wurde Energie aber nicht zuletzt deswegen, weil die Grenzen seiner Geltung hochumstritten waren. Insbesondere wird am Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, inwieweit der Begriff zur Erklärung von Phänomenen jenseits der Natur, nämlich der Kultur und Gesellschaft geeignet ist.\\ | ||
- | Ein anderer Grenzbereich war die Psychologie. In seinen Elementen der Psychophysik (1860) hatte Fechner den psychophysischen Parallelismus auch energetisch begründet. Er übertrug die potentielle Energie als ‚Spannkraft‘ auf das Gebiet der geistigen Tätigkeiten und unterstellte psycho-physiologische Interaktionen mit motorischen Prozessen.((Vgl. (Art.) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Anm. ), Bd. 9, S. 1295.)) Das Energieerhaltungsgesetz diente der Begründung des psychophysischen Parallelismus. Als daher der psychophysische Parallelismus in den 1890er Jahren von Philosophen wie Wilhelm Wundt und Carl Stumpf angegriffen wurde, spielte der Energieerhaltungssatz eine wesentliche Rolle.((Vgl. Mai Wegener, Der psychophysische Parallelismus, | + | Ein anderer Grenzbereich war die Psychologie. In seinen Elementen der Psychophysik (1860) hatte Fechner den psychophysischen Parallelismus auch energetisch begründet. Er übertrug die potentielle Energie als ‚Spannkraft‘ auf das Gebiet der geistigen Tätigkeiten und unterstellte psycho-physiologische Interaktionen mit motorischen Prozessen.((Vgl. (Art.) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Anm. ), Bd. 9, S. 1295.)) Das Energieerhaltungsgesetz diente der Begründung des psychophysischen Parallelismus. Als daher der psychophysische Parallelismus in den 1890er Jahren von Philosophen wie Wilhelm Wundt und Carl Stumpf angegriffen wurde, spielte der Energieerhaltungssatz eine wesentliche Rolle.((Vgl. Mai Wegener, Der psychophysische Parallelismus, |
- | Dagegen vertrat Freud zunächst das biophysikalische Paradigma seines Lehrers Ernst Brücke. Probleme der Psychologie werden um 1900 energetisch reformuliert. Die ‚Kräfte‘ wechseln gleichsam aus der Biologie in die Psychologie, | + | Dagegen vertrat Freud zunächst das biophysikalische Paradigma seines Lehrers Ernst Brücke. Probleme der Psychologie werden um 1900 energetisch reformuliert. Die ‚Kräfte‘ wechseln gleichsam aus der Biologie in die Psychologie, |
Um Übertragung von Energien zwischen den Menschen in Situationen kollektiver Interaktion geht es um 1900 schließlich auch im Rahmen der entstehenden Massenpsychologie (von Gabriel Tarde über Theodor Geiger und Gustave le Bon bis Elias Canetti). Die Theorie der geschichtsmächtigen Masse hängt um 1900 eng mit dem Energiebegriff zusammen.((Vgl. Michael Gamper: Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen, in: Gronau, Szenarien der Energie, S. 28. Joseph Vogl, Masse und Kraft, in: Brandstätter, | Um Übertragung von Energien zwischen den Menschen in Situationen kollektiver Interaktion geht es um 1900 schließlich auch im Rahmen der entstehenden Massenpsychologie (von Gabriel Tarde über Theodor Geiger und Gustave le Bon bis Elias Canetti). Die Theorie der geschichtsmächtigen Masse hängt um 1900 eng mit dem Energiebegriff zusammen.((Vgl. Michael Gamper: Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen, in: Gronau, Szenarien der Energie, S. 28. Joseph Vogl, Masse und Kraft, in: Brandstätter, | ||
Eine radikale, zugleich hochumstrittene Ausweitung des Energiebegriffs wurde durch den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und Georg Ferdinand Helm vorgenommen.((Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (= Philosophisch-soziologische Bücherei, XVI), Leipzig 1909.)) Ihre als Energetik bezeichnete Lehre sieht die Energie und das Energieerhaltungsprinzip als Grundlage der gesamten Naturwissenschaft an. Auch Stoffe sind nur eine besondere Form der primären Energie. Helm, Mathematiker und Professor sowie Rektor an der Technischen Hochschule Dresden, vertrat die von ihm begründete ‚Energetik‘ besonders offensiv und öffentlichkeitswirksam. Ostwald und Helm forderten (unter anderem gegen Boltzmann) einen weltanschaulichen Monismus, der den wissenschaftlichen Materialismus mit seiner mechanischen Vorstellung (Teilchen und Bewegung) überwinde. Alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens sollten auf ihre energetischen Grundlagen hin untersucht werden. Anknüpfend an den belgischen Chemiker und Soziologen Ernest Solvay (Questins d’énergetique sociale, 1884-1910) verstanden Ostwald und Helm die Energetik auch als wichtigen Beitrag zur Beschreibung und Gestaltung der Gesellschaft. Dem zweiten Hauptsatz stellt Ostwald die „Leitlinie der Kulturentwicklung“ entgegen. Unter Einbeziehung der Pädagogik oder Kunst wird eine kulturelle Umwandlung niedriger, d.h. physischer Energien in höhere, d.h. geistige und psychische Formen postuliert. Im Bereich der Ökonomie postulierte Helm, dass Geld das ökonomische Äquivalent niedriger Entropie sei.((Georg Helm, Lehre von der Energie, Leipzig 1887.)) In diesen Debatten, die sich mitunter wie ein frühes, technikoptimistisches ökologisches Manifest, lesen, wurden Schlagwörter wie Energieeinsparung und Energieverschwendung geprägt.\\ | Eine radikale, zugleich hochumstrittene Ausweitung des Energiebegriffs wurde durch den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und Georg Ferdinand Helm vorgenommen.((Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (= Philosophisch-soziologische Bücherei, XVI), Leipzig 1909.)) Ihre als Energetik bezeichnete Lehre sieht die Energie und das Energieerhaltungsprinzip als Grundlage der gesamten Naturwissenschaft an. Auch Stoffe sind nur eine besondere Form der primären Energie. Helm, Mathematiker und Professor sowie Rektor an der Technischen Hochschule Dresden, vertrat die von ihm begründete ‚Energetik‘ besonders offensiv und öffentlichkeitswirksam. Ostwald und Helm forderten (unter anderem gegen Boltzmann) einen weltanschaulichen Monismus, der den wissenschaftlichen Materialismus mit seiner mechanischen Vorstellung (Teilchen und Bewegung) überwinde. Alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens sollten auf ihre energetischen Grundlagen hin untersucht werden. Anknüpfend an den belgischen Chemiker und Soziologen Ernest Solvay (Questins d’énergetique sociale, 1884-1910) verstanden Ostwald und Helm die Energetik auch als wichtigen Beitrag zur Beschreibung und Gestaltung der Gesellschaft. Dem zweiten Hauptsatz stellt Ostwald die „Leitlinie der Kulturentwicklung“ entgegen. Unter Einbeziehung der Pädagogik oder Kunst wird eine kulturelle Umwandlung niedriger, d.h. physischer Energien in höhere, d.h. geistige und psychische Formen postuliert. Im Bereich der Ökonomie postulierte Helm, dass Geld das ökonomische Äquivalent niedriger Entropie sei.((Georg Helm, Lehre von der Energie, Leipzig 1887.)) In diesen Debatten, die sich mitunter wie ein frühes, technikoptimistisches ökologisches Manifest, lesen, wurden Schlagwörter wie Energieeinsparung und Energieverschwendung geprägt.\\ | ||
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begriffe/energie.1511009516.txt.gz · Zuletzt geändert: 2017/11/18 13:51 von claus